Durchstöbert man das Vorlesungsverzeichnis unserer Uni nach Schlagwörtern wie „Animationsfilm“ oder „Zeichentrickfilm“, findet sich in den letzten zehn Jahren kein einziges Seminar, geschweige denn auch nur eine Vorlesung zu dem Thema. Lediglich eine Sitzung der Filmgeschichte von Univ.-Prof. Dr. Alexandra Schneider im Wintersemester 2021 war für den Animationsfilm vorgesehen. Doch insgesamt bleibt es spärlich, wenn man an die noch immerwährende enorme Präsenz von Animationsfilmen denkt. Nicht nur große Studios wie Ghibli oder Pixar veröffentlichen regelmäßig Kassenschlager, auch Netflix und Amazon Prime produzieren hauseigene Animationsserien. BOJACK HORSEMAN (US 2014-2020), HILDA (US/UK/CA seit 2018), CASTLEVANIA (US 2017-2021) oder die jüngst produzierten Star Trek- Animationsserien STAR TREK: PRODIGY (US seit 2021) und STAR TREK: LOWER DECKS (US seit 2020) erfreuen sich großer Beliebtheit. Umso mehr ist die fehlende Präsenz von Animations- oder Zeichentrickfilmen in der Veranstaltungsliste eines Studienfachs mit dem Namen Filmwissenschaft, vorsichtig ausgedrückt, überraschend. Doch weshalb ist der Animationsfilm so wichtig? Warum sollte ihm mehr Präsenz gegeben werden?
Blenden wir zunächst einmal all die neuartigen technischen Methoden aus, mit denen Animation heute generiert wird. Geht man ins Cinestar in den nächsten Marvel-Streifen, scheint man nahezu nur noch computergenerierte Effekte vorzufinden, die hier und da mehr oder weniger leicht von realen Effekten unterscheidbar sind. Viele neue Pixar-Produktionen setzen mit ihren Effekten deutlich mehr auf Fotorealismus als bisher, wenngleich Körperform und Gesichter der Charaktere noch immer an die frühe Disneyzeit erinnern. In diesen Fällen geht der ursprüngliche Möglichkeitshorizont von Animationsfilmen verloren. Hayao Miyazaki, der Regisseur von preisgekrönten Filmen wie NAUSICAÄ AUS DEM TAL DER WINDE (JP 1984), PRINZESSIN MONONOKE (JP 1997) oder CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND (JP 2001), kann mit seiner traditionellen Arbeitsweise und Abwehr gegen computergenerierte Animation ein Lied davon singen. Doch was bietet dieser Horizont? Neben Studio Ghibli gibt es heutzutage noch immer Künstler*innen wie Suzan Pitt (JOY STREET, US 1994) oder Gints Zilbalodis (AWAY, LV 2019), die jeden einzelnen Frame selbst erschaffen und aneinanderreihen, was schlussendlich die Animation hervorbringt.
Dieser Punkt ist interessant, da sich hier der kreative Kern von Animationsfilmen offenbart: Jedes Bild muss neu gezeichnet werden, wenn die Bewegung bzw. die Veränderung erzeugt werden soll. Die Entscheidung, ob ein Körperteil größer oder kleiner, länger oder kürzer wird, sich abtrennt oder anwachsen soll, liegt allein in der Entscheidung der Künstler*innen. Spätestens hier wird deutlich: Der Anspruch auf Realität spielt hier keine Rolle, bzw. spielt „bewusst“ keine Rolle. Und nach dem Philosophen Gilles Deleuze ist genau dies die Aufgabe der Kunst und somit des Kinos, nämlich sich von der Vorstellung einer Repräsentationslogik zu lösen und neue Bilder zu schaffen, egal wie das Ausgangsmaterial des Bildes beschaffen ist. Laut ihm ist auch die Kamera dann nicht mehr das einzige Mittel, um Bilder zu generieren, sondern auch, folgt man der Argumentation, Stift und Papier als Ausgangsmaterial des Daumenkinos und der Animation. Doch was genau macht sie so besonders?
Neben der kreativen Vielfalt, die sich daraus ergibt, wird es noch interessanter, wenn unsere Sprache ins Spiel kommt. Die Redewendung, dass jemandem fast die Augen aus dem Kopf fallen, kann im Animationsfilm visuell realisiert werden. Oder man denke an das buchstäbliche Verschwinden des Bodens unter den Füßen, bevor die Charaktere in die Leere stürzen. Bei solchen Szenen kommt schnell so etwas wie „Tom & Jerry“ oder „Der rosarote Panther“ in den Sinn. Neben diesen Slapstick-Momenten sollten wir aber, nachdem wir unseren Körper wieder zusammengesteckt haben, unsere herausgefallenen Augen einsammeln und diese auf einen weiteren Möglichkeitsraum richten: die Groteske.
Verzerrte Fratzen. Frankensteinische Chimären. Kurz: die Vermischung des Unvermischbaren. So in etwa lässt sich das Groteske zusammenfassen. Gerade in Geschichten von Lewis Carroll und Heinrich Hoffmann sehen wir mit Struwwelpeter, grinsenden Katzen und größenverzerrendem Tee und Kuchen eine groteske Verzerrung von Körpern. Und genau solche Figuren begegnen uns aber auch überall in Animationsfilmen. Man denke da zum Beispiel an die Filme von Henry Selick wie THE NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS (US 1993) und CORALINE (US 2009). Der lebendige Kartoffelsack aus Maden als Bösewicht, die Eltern als Spinnenmonster mit Knöpfen als Augen und der Bürgermeister mit zwei drehbaren Gesichtern für Freude und Wut – die meisten Körper in Selicks Filmen spielen auf groteske Art mit dem Verzerren von Grenzen und bleiben uns bis heute als gruselige Erinnerungen im Kopf.
Dabei erfüllt genau diese Verzerrung als Gruselfaktor eine ganz besondere moralische Funktion. Dem amerikanischen Philosophen Peter Fuß zufolge würden wir die verzerrten Gestalten wie Jack Skellington, der als Weihnachtsmann Schrumpfköpfe unter den Weihnachtsbaum legt, als Mahnzeichen am Rand der Kulturordnung sehen. Die gruseligen Figuren zeigen durch ihre verzerrten Gesichter und verkehrten Gliedmaßen, wie angsteinflößend es sein kann, unsere kulturellen Normen zu überschreiten und dass es vielleicht doch angenehmer ist, das, was wir als normal ansehen, zu bewahren. In anderen Worten: Die Konstruktion eines fremden und verzerrten Körpers festigt durch ihren Gruselfaktor unsere eigenen kulturellen Werte, sodass wir uns vom Fremden und Bedrohlichen abgrenzen. Wo man das besonders gut sehen kann, ist in CORALINE.
CORALINE von Henry Selick ist ein Film, der vermutlich vielen Leuten aufgrund seiner Körperdarstellungen stark in Erinnerung geblieben ist: Stichwort Knopfaugen. Während Coraline sich nach einem Umzug ins ländliche Oregon langweilt - die Eltern sind stets beschäftigt, die Nachbarn fade und langweilig – sehnt sie sich nach einem fantastischen Abenteuer. Doch als sie dann tatsächlich eine magische Tür zu einer Parallelwelt findet, samt paralleler Eltern und Nachbarn, muss sie feststellen, dass dort alles ein wenig zu perfekt ist. Während der zahnstocherartige Körper des Vaters in der realen Welt müde und ungepflegt wirkt, trägt er in der Parallelwelt Haargel, einen roten Samtmantel und ist talentierter Jazzpianist. Der obere Nachbar Mr. Bobinski und die unteren Nachbarinnen Ms. Spink & Forcible - in der Realität kugelrund, mit Falten, überschminkt und mit blauer Haut - verwandeln sich in der magischen „anderen“ Welt in fantastische Zirkusakrobaten, die wortwörtlich ihre Haut ablegen und mit schlanken, neuen Körpern eine Trapezshow starten und als gigantische Dompteure einen Mäusezirkus leiten. Einzig die Mutter wirkt normal – jedenfalls bis auf die Knöpfe als Augen, die alle Figuren dieser Welt tragen. Knöpfe, die den Schlüssel dieser Welt darstellen. Und so fordert auch die „andere“ Mutter Coraline auf, ihren Körper zu verzerren und sich Knöpfe aufzunähen, um Teil von dieser magischen Welt zu bleiben. Doch als Coraline sich widersetzt, enthüllt die Welt ihre monströse Illusion. Der Vater und die Nachbarn zersetzen sich zu Brei und Ratten, die Mutter enthüllt sich als spinnenartiges Monster.
The Final Exit of the Disciples of Ascensia
In ihrer erfolgreichen Flucht bekommt Coraline die moralische Erkenntnis, ihre Eltern und grau anmutenden Nachbarn besser wertzuschätzen und vorsichtig zu sein, was sie sich wünscht. Die vermittelte Moral in CORALINE funktioniert als Mahnzeichen für unsere Kulturnormen. In der ersten Hälfte des Films wirken die Darstellungen und Körper der „anderen“ Welt für Coraline verheißungsvoll und magisch gegenüber ihrer faden Realität. Als sich jedoch die Körper verzerren und die Schrecken offenbaren, lernt Coraline, die Langweiligkeit ihrer Welt zu akzeptieren und wertzuschätzen. Doch ergibt sich der Wert des Animationsfilmes allein durch seine radikale Differenz zur Realität? Hierzu sei noch einmal die Verschränkung mit der Sprache erwähnt. Die Möglichkeit der Visualisierung von sprachlichen Mitteln, beispielsweise Redewendungen, erzeugt nach Elisabeth Klar neue Formen von Identitäten: Nachdem Charaktere in die Tiefe gestürzt sind und nachdem sie in gefühlt 100-facher Weise ihre Gliedmaßen verloren, verbogen, vergrößert oder verkleinert haben, sind sie im nächsten Bild wieder in gewohnter Gestalt vorhanden. Die im Animationsfilm agierenden Körper erlangen also die Fähigkeit, zwischen bestimmten sprachlichen Zuschreibungen hin- und herzuspringen. Diese Verkopplung der visuellen Vielfalt des Animationsfilms mit unseren Vorstellungen von Sprache, birgt also das Potenzial, unsere sprachlich strukturierten Voreinnahmen zu hinterfragen.
Die Arbeiten von Jonni Phillips scheinen dieser Idee in besonderem Maße zu entsprechen. Auf dem gleichnamigen Youtubekanal veröffentlicht sie Kurzfilme bis hin zu Animationsfilmen in Spielfilmlänge. Meist humoristisch verweist ihr Stil auf die Banalisierung von Körpervorstellungen, an deren Stelle besonders Mimik und Gestik in den Vordergrund treten. So z. B. in der You‐ Tube-Serie „Weird Helga“: Die gleichnamige Protagonistin wird zunächst mit alltäglichen Situationen konfrontiert. Ein von ihr bestellter Kaffee wird fälschlicherweise mit dem Namen „Hal Guy“ beschriftet, sie stellt sich daraufhin vor, mit dieser neuen Identität von allen Seiten Ruhm zu erlangen. Sie wickelt ihr Haar um ihr Gesicht um einen Bart zu simulieren und kurz darauf scheint ihr die Welt zu Füßen zu liegen. In BARBER WESTCHESTER (US 2021) versucht Barber einem Maulwurf das Weltall zu erklären, während dieser mit Barbers „fancy terms“ und „land dweller stuff“ nichts anzufangen weiß.
In diesen und zahlreichen weiteren Beispielen zeigt sich, dass sich in Phillips‘ Werken binäre Festschreibungen zwischen Menschen und Tieren oder Männlichkeit und Weiblichkeit verflüssigen. Soap-ähnliche Themen in der Serie SECRETS AND LIES IN A TOWN OF SINNERS (US 2020) oder die Coming- of-Age Geschichte THE FINAL EXIT OF THE DISCIPLES OF ASCENSIA (US 2019) erlangen dadurch eine ganz besondere Qualität, die in Live Action Filmen, als auch im Mainstream der Animationsproduktionen kaum vorzufinden sind.
BarberWestchester | Filmstill
Und so bauen sich zwei zunächst widersprüchliche Konzepte auf: das Verzerren von Körpern zum Abgrenzen von der kulturellen Norm und zum Erschließen neuer Körper- und Genderformen. Daher wird es umso spannender, wenn sich beide Konzepte verknüpfen lassen. So outet sich im Stop-Motion-Godzilla-Short COMING OUT (US 2020) der Animationskünstlerin Cressa Beer das Kind von Godzilla dem Elternteil gegenüber emotional als Transgender. Gerade weil die Körper in ihrer Monsterhaftigkeit vom Aussehen her zunächst keinen Rückschluss auf die Genderidentität führen lassen, ist Beer in der Lage, das Thema der Trans-Identität größtenteils vom Körper zu lösen. Im japanischen Rock-Historienfilm INU-OH (犬王, J 2021) funktioniert dies genau andersherum: Dort versuchen der erblindete Biwa-Spieler Tomona und der durch einen Fluch mit einem drei Meter hohen Arm und im Gesicht verdrehten Augen deformierte Inu-Oh entgegen der Herrschaftsstrukturen eine Rock-Form des Noh- Theaters zu etablieren. Dabei wirkt gerade die Befreiung des Körpers von Inu-Oh durch Glamartige Performances entgegen der binären Gesellschaftsbilder wie eine deutliche Allegorie zur Transidentität. Erst durch das Brechen patriarchischer Unterdrückungsstrukturen in seiner Kunst ist Inu-Oh in der Lage, seinen Körper in einer neuen Form zu befreien.
All dies zeigt – Animation ist mehr als nur unter dem Gewand der computergenerierten Effekte zu verstehen. Vielmehr zeigt uns die Animation Möglichkeiten, durch ihre Körper das Jenseits von genormten Grenzen zu erforschen. Die fremden Körper können uns so in Schrecken versetzen oder neue Genderformen präsentieren. Was so klar und offensichtlich in der gewohnten Sprache zutage tritt, erscheint hier im Animationsfilm einem völlig neuen Licht. Seine Bezugnahme in den Filmwissenschaften sollte daher von großer Wichtigkeit sein.
QUELLEN
- Die zweite Produktion (2021): Gilles Deleuze und das Zeit-Bild 1/2 | Filmtheorie #4. (31.01.2023).
- Klar, Elisabeth (2011): Wir sind alle Superhelden! Über die Eigenart des Körpers im Comic – und über die Lust an ihm. In: Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hrsg.): Theorien des Comics. Ein Reader. Bielefeld.
- Fuß, Peter (2001): Das Groteske. Ein Medium des kulturellenWandels. Köln.