Mainz ist aktuell der Schauplatz eines kulturpolitischen Ausnahmefalls, der weit über die Grenzen der Stadt hinaus Bedeutung haben könnte. Es geht um die Frage, welchen Stellenwert das Kino genießt: Kultur oder Kommerz? Ist es das Licht der Öffentlichkeit und der öffentlichen Hand wert oder doch eher eine Privatangelegenheit, die in dunklen Sälen bleiben sollte?
Seit annährend zwei Jahren scheint das Ende der Programmkinos Capitol und Palatin bevorzustehen. Die beiden benachbarten Häuser im Bleichenviertel, mit einem großen und vier kleineren Sälen, werden seit gut 13 Jahren von Jochen Seehuber und Eduard Zeiler als wirtschaftlich erfolgreiche Spielstätten betrieben. Das Immobilienunternehmen Fischer und Co. hat das Palatin 2021 erworben. Mit dem erklärten Ziel das Gebäude abzureißen und dort Wohnungen zu errichten, ebenso wie dies in der jüngeren Vergangenheit in der Nachbarschaft mit den Programmkinos Residenz und Prinzess geschehen ist. Der eine Saal des Capitol wäre ohne die vier weiteren des Palatin nicht rentabel und würde wohl dem Leerstand anheimfallen. Die Gefahr, dass die größten Programmkinos der Landeshauptstadt schließen könnten, hat große Reaktionen nach sich gezogen. Eine Petition für den Erhalt der Häuser erreichte annährend 30.000 Unterschriften. Obwohl sich online viele ähnliche Petitionen aus dem ganzen Bundesgebiet finden lassen, hat keine ähnlichen hohen Zuspruch, weder aktuell noch in der Vergangenheit.
Zuletzt hat sich herauskristallisiert, dass das Kulturamt der Stadt den Erhalt des Palatin durch die Förderung des Baus vermutlich dreier neuer Säle auf dem alten Grundstück unterhalb der weiter vorgesehenen Wohnungen plant. Alleine zu wenig, um wirtschaftlich zu sein. Doch die Bauzeit von mindestens drei Jahren hieße das Ende des Capitols. Der Betrieb des neu entstehenden „Filmkunsthauses“, wie es gelegentlich genannt wird, an der Stelle des Palatin, soll aber getrennt davon ausgeschrieben werden. Dies würde dann einen nicht mehr wirtschaftlichen Weiterbetrieb des Palatin-Nachfolgers durch neue Betreiber*innen bedeuten. Sofern sich die Pläne nicht eh in der nahen Zukunft nach Wegfall des öffentlichen Interesses in Luft auflösen. Die Häuser könnten also immer noch beide dauerhaft verschwinden. Wäre Mainz wirklich ohne Programmkinos, wäre es womöglich eine von Deutschlands größten Städten, der es so ergeht – sicherlich aber Deutschlands einzige Landeshauptstadt. Übrig wären mit dem Cinestar und dem CinéMayence dann noch die Extremen des Spektrums: Marvel-Mainstream und historische Kurzfilmprogramme. Die Mitte würde fehlen.
Klar ist: Das Kino kann in Mainz nur durch einen politischen Akt gerettet werden. Es ist hier nochmal zu betonen, dass die Gefahr für das Kino nicht von mangelndem Interesse und finanziellem Ruin ausgeht, ganz im Gegenteil: Es ist ein Interessenkonflikt mit der Bauwirtschaft, der die Probleme auslöst. Dies hat die Stadt Mainz in den ersten Monaten, bevor der öffentliche Druck anschwoll, als einen Konflikt zwischen zwei Wirtschaftsunternehmen betrachtet, in denen es sich nicht einzumischen gelte. Immerhin sind Bau und vor allem Wohnungsbau in Mainz wichtige Themen. Mehr noch so im Dezernat für Bauen (und Kultur).
Das Gegenargument war, dass Kino Kultur sei und damit einen höheren Wert darstelle als wirtschaftliche Interessen. Schließlich würde auch niemand den Dom abreißen, um das Wohnungsproblem im Herzen der Stadt anzugehen. Aber das Palatin ist eben nicht der Dom. Die Frage, ob Kino Kultur ist, mag in der Filmwissenschaft beantwortet sein, in der breitesten Öffentlichkeit und auf den Seiten der lokalen Presse ist dies aber noch nicht der Fall. Wieso?
Niemand bestreitet, dass Oper Kultur ist. Niemand bestreitet, dass Werke von Chagall Kunst sind. Niemand bestreitet, dass der Mainzer Dom ein Stück herausragende Baukultur ist. Aber viel weniger würden für „Im Schatten des Domes“ als Kultur argumentieren. Kaum jemand würde Werbeplakate in einer Unterführung als Kunst bezeichnen. Und niemand würde die Meenzer Worstschtub als Baukultur bezeichnen. Was Kultur ist, wird in dieser populären Wahrnehmung auch von Marktkräften bestimmt: Mangel schafft Wert. Doch mit einer entscheidenden Ergänzung: Mangel meist sowohl auf seitens des Angebots wie der Nachfrage. Selten und unzugänglich soll gute Kultur sein. Das Problem für das Kino ist heute also paradoxerweise, dass Menschen Filme sehen wollen und dies auch tun. Wenn auch zumeist online. Ein Unterschied in der Erfahrung, den zu betonen für die Filmwissenschaft eine besondere Aufgabe darstellt.
Noch steht der Mangel im Kino auf beiden Seiten aus. Doch es gilt diesem Zustand vorzubeugen, bevor es so weit kommt. Dieser Akt ist politisch, denn hier findet nicht nur eine Einmischung in die Wirtschaft, sondern auch in die Geschmackspolitik statt. Etwas, was auf Seiten der Filmproduktion schon seit rund 60 Jahren stattfindet, aber auf Seiten der Rezeption noch verhalten und verschämt ist.
Die Förderung wendet sich dann gerne solchen Programmen zu, nach denen es keine Nachfrage gibt. Hochkuratierte Reihen zum Underground- Film einzelner Staaten, Dokumentationen, die hier ihre Kinoauswertung in ein paar Dutzend Vorstellungen deutschlandweit erfahren. Dies ist sehr wichtig. Hier gibt es Dinge zu finden, von denen man nicht wusste, dass man sie will. Diese Nische wird in Mainz vom CinéMayence gut bedient. Schmerzlicher noch vermissen wird man all die Filme, die im Feuilleton rezensiert werden, diealle großen Preise gewinnen und es in Mainz doch nicht auf die Leinwand schaffen würden. Das darf nicht passieren. Es ist ein so sichtbarer Teil von Kultur, dass er bis zu dieser Krise unsichtbar war. Warum nicht die Entscheidung darüber, was aus öffentlicher Hand gefördert werden soll, einfach mal die Öffentlichkeit selbst entscheiden lassen? Am Ende muss doch der Markt siegen. Es müssen einmal die vielen entscheiden, was Kultur ist und nicht die wenigen. Und beliebte Programmkinos müssen erhalten werden, so wie sie sind.
INFORMATION
Die Lage der Kinos verändert sich stetig. Einige Informationen können veraltet sein. Der Text ist auf dem aktuellem Stand zum Redaktionsschluss am 08.02.2023. Weitergehende Informationen findet ihr auch unter: Mainz für Kino