Wie auch PARASITE (SK 2019) funktioniert der in Europa von Netflix vertriebene FORGOTTEN von Autor und Regisseur Jang Hang-jun am besten, wenn man vorab möglichst wenig über die Handlung weiß. So kann diese kleine Thrillerperle ihre größtmögliche Wirkung entfalten. Denn ein Großteil der Faszination macht gerade in der ersten Hälfte die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Gesehenen aus. Wie Protagonist Jin-Seok (Kang Ha-neul) tappen wir als Zuschauende zunächst im Dunkeln und sind ob der gezeigten Bilder verwirrt. Diese Verwirrungen löst der Film im Laufe seiner äußerst kurzweiligen 108 Minuten Laufzeit trotz ein, zwei etwas konstruiert wirkender Storybeats gekonnt auf und mündet – anders als viele andere Filme in diesem Genre – in einem zufriedenstellenden und gelungenen Ende. Gerade der treibende Score und das fantastische Pacing ziehen die Spannungsschrauben während des Verwirrspiels gehörig an, sodass nie auch nur ein Funken Langeweile aufkommt, man dauerhaft gebannt vorm Bildschirm sitzt und sich beim Abspann fühlt, als hätte man gerade einmal einen 60-Minüter gesehen. In Bezug auf den Gewaltgrad ist FORGOTTEN im Vergleich zu anderen südkoreanischen Genrebeiträgen (z. B. I SAW THE DEVIL (SK 2010) von Kim Jeewon) zudem recht zahm, was dem Film aber keinesfalls schadet. Für Thriller Liebhaber*innen entpuppt sich Forgotten so als kleiner, aber nicht minder unterhaltsamer Film, der auch für nicht so hartgesottene Zuschauer*innen interessant sein dürfte.
Auch eine Einreichung für den internationalen Oscar im Jahr 2017 stellt das Drama A TAXI DRIVER dar. Der Film über die Studentenaufstände in Gwanju aus der Feder von Jang Hoon mit Ausnahmeschauspieler Song Kang-Ho (PARASITE, SK 2019/ MEMORIES OF MURDER, SK 2003) schafft einen unglaublichen Drahtseilakt der Emotionen. Was zunächst als eine Komödie aus der Welt gefallener Charaktere rund um den am Hungertuch nagenden Taxifahrer Kim Man-Seob (Song Kang-Ho) und dem deutschen Investigativjournalisten Jürgen Hinzpeter (Thomas Kretschmann) beginnt, steigert sich mit der Ankunft im militärbesetzten Gwanju zu einem hochspannenden Thriller. A TAXI DRIVER basiert zu Teilen auf einer wahren Geschichte, denn Jürgen Hinzpeter gab es tatsächlich, und er hat sich tatsächlich im Jahre 1980 mithilfe eines Taxifahrers in die Aufstände geschmuggelt, um über die kriegerischen Situationen zu berichten. Dennoch ist die eindrucksvollste Geschichte, die der Film erzählt, jene über die Menschen Koreas – über Student*innen, Taxifahrer, Journalisten und einfache Leute. Die menschliche Darstellung des Koreas der 1980er-Jahre lässt die Zuschauer*innen sehr nah an die Figuren und hinterlässt, sobald der Film vorbei ist, ein tiefgreifendes Gefühl der Verbundenheit.
Kim Ki-youngs HANYO – DAS HAUSMÄDCHEN aus dem Jahr 1960 könnte, abgesehen von rein technischen Aspekten des Filmemachens, auch glatt als Teil des New Korean Cinema durchgehen, so klar ist er durchzogen von dessen Themen, so feministisch ist er in seiner Aussage.
Tatenlos geht der Musiklehrer durch sein Leben, er ist liebender Familienvater, vergöttert von seinen ausschließlich weiblichen Schülerinnen und – so unschuldig er auch wirken mag – Patriarch. Die einzige Handlung von Stärke, die er regelmäßig tätigt, ist das Abweisen junger Frauen, die sich nur aufgrund seiner Attraktivität in ihn verliebt haben. Doch auch diese Stärke währt nicht lang, und so lässt er sich eines Nachts von seinem Hausmädchen zum Sex verführen – und ist ab diesem Zeitpunkt nur noch eine Schachfigur im Spiel zwischen seiner Ehefrau und seiner geheimen Geliebten, die sich fortan im Familienhaus um ihn und die eigene Existenz bekriegen.
HANYO beginnt mit einem subtilen Bild patriarchalischer Verhältnisse, lädt die Zuschauer*innen in eine Männerfantasie ein, um diese effektiv umzuwandeln in eine Geschichte von erstarkenden Frauen und unfähigen Männern. Auch die beiden Kontrahentinnen handeln unmoralisch, begehen Fehler, doch Kim erzählt von ihrer Autonomie mit einer Selbstverständlichkeit, die im heutigen Kino noch immer nicht garantiert ist.
Eine Eule in der Nacht, Schüsse und viel Ungewissheit. Eine unabhängige Ermittlerin soll diese in Gewissheit verwandeln. Der Ausgang der Ermittlung wirkt dabei wie ein explosives Pulverfass. Noch vor seinem internationalen Durchbruchsfilm OLDBOY (SK 2003) gelang Park Chan-wook mit seinem Film JOINT SECURITY AREA im Jahr 2000 ein echter Drahtseilakt. Die in einer demilitarisierten Zone an der Nord-Südkoreanischen Grenze angesiedelte Geschichte birgt nämlich selber großes Konfliktpotenzial. Doch der Meisterregisseur gibt sich nicht plumper politischer Polemik hin, sondern ergründet lieber die Menschlichkeit in Zeiten des Aufruhrs.
Gleich zu Beginn legt der Film ein enorm hohes Tempo vor. Viele Figuren werden eingeführt und Zusammenhänge erschließen sich nicht sofort. Beinahe fragt man sich, ob man einige Szenen und Überleitungen verpasst habe. Doch im Folgenden stellt sich heraus, dass die auf dem Papier simpel anmutende Geschichte um den Konflikt einiger Soldaten von Regisseur Park Chan-wook meisterhaft in verschiedene Zeitebenen verstrickt wird, sodass der Film über seine volle Laufzeit interessant und fesselnd bleibt. Das liegt auch daran, dass der Film unterschiedliche Facetten und Motive aufgreift. Eingerahmt von der Frage, was in jener ominösen Nacht geschah, steckt im Kern nämlich eine ergreifende Geschichte über Verantwortung, eine mögliche Annäherung der Kriegsmächte und Freundschaft, wo mutmaßlich keine Freundschaft sein dürfte. Dieser emotionale Unterbau sorgt gepaart mit der klugen Regie, fantastischen Bildkompositionen und einem herausragenden Schnitt für einen Nachhall, lange nachdem der Abspann über den Bildschirm läuft.
Eine besonders eindrückliche und melancholische Kost ist der Mystery-Thriller BURNING der südkoreanischen Regielegende Lee Chang-Dong. Als erste südkoreanische Produktion überhaupt landete BURNING auf der Shortlist des Oscars für den besten internationalen Film. Und das zurecht! BURNING handelt von der Freundschaft zwischen Lieferjunge Jong-su (Yoo Ah-In) und der tagträumerischen Shin Hae-mi (Jeon Jong-seo), die sich nach langer Zeit wiedertreffen und gemeinsam von einer aufstrebenden Zukunft träumen. Als Hae-mi dann auf einer Afrikareise den reichen und mysteriösen Ben kennenlernt und von ihm verzaubert wird, riecht Jong-su eine langsam lodernde Gefahr und geht Ben auf die Spur. BURNING überzeugt vor allem durch meisterhafte schauspielerische Leistungen und wunderschöne Bilder. Vor allem Jeon Jong-seo als die tagträumerisch tanzende Shin Hae-mi und Steven Yeun in der Rolle des stoisch attraktiven, doch mysteriösen Reichen Ben verkörpern ihre Rollen zur Perfektion.
Der Film glänzt besonders in seinen Momenten der Stille. Inmitten der zahlreichen Dialogszenen des Trios über das Suchen und Finden nach einem Sinn in ihrem Leben sind es vor allem die Momente, in denen sie aufhören zu sprechen, die Burning extrem wirkungsvoll in seiner Botschaft über Klasse, Maskulinität und unsere Existenz machen.
Park Chan-wooks DIE TASCHENDIEBIN aus dem Jahr 2016 präsentiert sich als perfektes Gegenstück zu dessen wohl bekanntestem Film OLDBOY (SK 2003), der seinerseits dem koreanischen Kino endgültig zu internationalem Ansehen verholfen und seitdem Kultstatus erreicht hat. Beide Filme erzählen von Erotik, Liebe und Gefangenschaft und bleiben besonders für ihre erstaunlichen Wendungen im Gedächtnis. Doch während OLDBOY als rasant inszenierter Actionfilm daherkommt und seine Twists vor allem zum Schock der Zuschauer*innen einsetzt, erzählt DIE TASCHENDIEBIN zunächst zurückhaltend, lässt die Zuschauer*innen lange rätseln, um dann den ersten großen Schwenk zu machen und seine Wucht über die gesamte Laufzeit zu entfalten.
Die Erzählweise, die Park Chan-wook und seine Co-Autorin Chung Seo-kyung wählen, erinnert teils stark an Akira Kurosawas RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN (JP, 1950), in dem vom gleichen Ereignis aus drei verschiedenen Perspektiven nacheinander erzählt wird. Wird dieser oftmals für seine frauenfeindlichen Untertöne kritisiert, zeichnet Park entschieden feministisch sein Bild von homosexuell-weiblicher Zuneigung und patriarchischen Machtverhältnissen. Er erzählt voller Zynismus von der Unfähigkeit vieler Männer, sich von ihren misogynen Zügen und ihrem Überlegenheitsgefühl zu lösen, die hier zum Ursprung ihres Untergangs wird.
Die Taschendiebin | Filmstill
Obwohl dieser eng mit der Thematik des Films verknüpft ist, gelingt es Park leider nicht, sich auch in den Sexszenen vom male gaze, der Betrachtungsperspektive eines heterosexuellen Mannes, zu trennen. So wirken diese Szenen klassisch im negativen Sinne, das Ansprechen männlicher Gelüste tritt ironischerweise erneut in den Vordergrund. Mit DIE TASCHENDIEBIN ist Park Chan-wook dennoch sein bislang größter Geniestreich gelungen: ein feinfühliger, komplex geschriebener und virtuos inszenierter Befreiungsakt, der nur langsam und umso wirkungsvoller seinen Kern entfaltet.