Teheran, 15. Oktober 2022: Das Evin-Gefängnis, in dem vor allem politische Gefangene inhaftiert sind, steht in Flammen. Acht Inhaftierte sterben und Dutzende werden verletzt. Zu den Überlebenden zählt der Regisseur Jafar Panahi. Wegen „Propaganda gegen das System“ wurde er bereits 2010 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt, die er schließlich im Juli 2022 antreten musste. Einige Monate zuvor hatte er sich noch mit einer Gruppe von Filmschaffenden solidarisiert, die als Folge eines Aufrufs gegen Polizeigewalt festgenommen worden waren. Glücklicherweise kam Panahi am 3. Februar 2023 nach der Ankündigung eines Hungerstreiks gegen Kaution frei. Das Urteil gegen Panahi beinhaltete nicht nur sechs Jahre Gefängnis, sondern auch 20 Jahre Berufsverbot, die der inzwischen 72-Jährige jedoch zwölf Jahre lang geschickt zu umschiffen vermochte.
Eine kurze Geschichte der Islamischen Republik
Aber dazu später mehr. Zunächst wollen wir Jafar Panahi lediglich als Symbol, aber auch als eine von vielen Figuren des politischen Widerstands betrachten. Widerstand zeigt sich aktuell vor allem in Form der erneut erstarkten Proteste gegen die Regierung der Islamischen Republik. Die breit aufgestellte demokratische Widerstandsbewegung, zu der er gezählt werden kann, geht der Islamischen Revolution von 1979 allerdings schon um viele Jahre voraus. Bereits unter der Herrschaft des Schahs kämpften verschiedene progressive Kräfte – darunter Unabhängigkeitsbewegungen in Kurdistan, Belutschistan und Aserbaidschan – gegen die reaktionäre Monarchie und für Selbstbestimmung. Letztendlich folgte auf den Schah jedoch keine Periode der Demokratie, sondern eine theokratische Diktatur der reaktionärsten Teile der schiitischen Geistlichen, welche bis heute besteht. Ihren Herrschaftsanspruch setzten diese Ajatollahs unter der Leitung des „Führers“ Ruhollah Chomeini in den Folgejahren der Islamischen Revolution mit blutigem Terror – Entführungen, Folter und Exekutionen – durch. Der zeitnahe Beginn des Ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und Irak erlaubte dem jungen Regime schließlich die Grundrechte der allgemeinen Bevölkerung stärker und stärker einzuschränken. In dieser Zeit des Krieges wurden die Ajatollahs zunehmend nicht mehr als tyrannische Herrscher, sondern als Retter der Nation gesehen. Tapfer würden sie das Volk im Kampf gegen den ausländischen Aggressor führen. Chomeini nutzte den Krieg geschickt aus, um Tausende Regimegegner* innen – darunter Feminist*innen, Kommunist* innen aber auch anders gesinnte Geistliche – hinzurichten. Die neu gegründete iranische Revolutionsgarde überwacht(e) und verfolgt(e) wesentlich mehr Oppositionelle als noch zu Zeiten des Schahs. Ebenso wurde eine islamische Religionspolizei etabliert, welche u. a. den Kopftuchzwang an öffentlichen Plätzen überwacht. Nach der Islamischen Revolution besaßen die Iraner*innen entgegen dem, was sich viele erhofft hatten, noch weniger Meinungsfreiheit und Bürger*innenrechte als vorher. So erzählt es zumindest der Film PERSEPOLIS (FR/USA 2007) von Marjane Satrapi. In dem autobiographischen Werk schildert Satrapi ihre subjektiven Eindrücke der politischen Ereignisse in ihrem Heimatland von ihrer Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Als Tochter einer linken bürgerlichen Familie wird sie von ihren Eltern immer wieder über die Hintergründe der Ereignisse, welche sie unmittelbar erlebt und nicht ganz einzuordnen vermag, aufgeklärt. Wir als Zuschauer*innen werden so im Laufe der Spielzeit des Films quasi mit ihr erzogen. Doch wir lernen nicht nur Dinge über die Geschichte des Iran, sondern auch über die Bedeutung von Bruce Lee, Godzilla, Iron Maiden und Karl Marx. Sowohl der Schrecken von Tod und Krieg als auch die Liebe zu ihrer Familie und zur Popkultur haben sie zu dem Menschen gemacht, der sie ist. Beides ist Teil ihrer Identität.
Dieses Spannungsfeld tritt im iranischen Kino immer wieder auf die ein oder andere Art hervor. Filme aus dem Iran sind häufig Filme über das Leben in einem repressiven Regime, jedoch sind sie fast immer auch Filme über das Leben darüber hinaus. Direkte Kritik an der Regierung ist angesichts der strengen Zensur im Iran schwer möglich. Es ist allerdings möglich, Filme mit Anspruch auf Wahrheit und Wirklichkeit zu produzieren. Doch was heißt das?
Emotionale Spannung und psychologischer Realismus
Konkret lässt sich das nur anhand der Werke der jeweiligen Filmemacher*innen festmachen. Stellen wir uns also die Frage: Was macht die Filme des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi realistisch? Farhadi ist ein Regisseur, der im Gegensatz zu vielen seiner Kolleg*innen mit LA PASSÉ (LA PASSÉ – DAS VERGANGENE, FR/IT/IR 2013) und TODOS LO SABEN (OFFENES GEHEIMNIS, AR/FR/DE/IT/ES 2018) bereits Filme außerhalb seiner Heimat gedreht hat. Seine Filme behandeln Familie, Geschlechter- und Klassenverhältnisse, gesellschaftliche Moralvorstellungen uvm. Nicht nur darin, sondern auch in seinem theaterhaften Inszenierungsstil und der harschen Ehrlichkeit seiner Dialoge ist Farhadi offensichtlich stark von den Filmen des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman beeinflusst. Ob in Frankreich, Spanien oder im Iran geht es – wie man im Hessischen so schön sagt – „den Menschen wie den Leuten.“ Überall existieren Patriarchat und Kapitalismus in der einen oder anderen Form und belasten die Beziehungen der Menschen untereinander – ob im familiären Kontext oder darüber hinaus.
Der große Humanist – Abbas Kiarostami
Während bei Farhadi die Inhalte und Ästhetik sehr handfest sind, finden wir bei dem bereits verstorbenen Filmemacher Abbas Kiarostami eine andere, spielerische Herangehensweise. Kiarostamis Kino ist zutiefst humanistisch. Oft streifen seine Figuren manchmal zu Fuß noch häufiger jedoch mit dem Auto durch Städte und Landschaften. Sie sind auf der Suche nach oder auf dem Weg zu etwas. Oftmals werden sie auch fündig, doch ist es selten, wonach sie anfangs gesucht haben. So z. B. der Protagonist von BAD MA RA KHAHAD BORD (DER WIND WIRD UNS TRAGEN, IR/FR 1999): Der städtische Journalist Behzad fährt zu Beginn des Films in ein abgelegenes kurdisches Dorf, um die Trauerrituale der dortigen Bevölkerung zu dokumentieren. Die Dokumentation läuft jedoch nicht wie geplant und er ist gezwungen, länger als zunächst gedacht in dem Dorf zu bleiben. An dem regierungsfernen Ort beginnt er schließlich langsam eine Entwicklung durchzumachen. Die herzliche Art, auf die er von den Dorfbewohner*innen empfangen und als Gast behandelt wird, verändern seine Herangehensweise an Leben und Arbeit radikal. Seine veränderten Lebensumstände machen ihn zu einem anderen Menschen.
Es sind vor allem Kiarostamis Figurenzeichnungen, in denen sein Humanismus zur Geltung kommt. In seinen Filmen werden die Menschen von der Kamera wie mit liebendem Blick Gottes angeschaut. Immer wenn sie mit Autos oder Motorrädern lange Strecken durch malerische Landschaften zurücklegen, hört man trotz der Einstellungsdistanz und Motorengeräuschen deutlich, worüber die Figuren miteinander sprechen. Kiarostamis Kamera- und Tonarbeiten besitzen die Allgegenwärtigkeit und das Interesse eines Gottes an seiner Schöpfung. Wo Farhadi oft kalt und scharf wirkt, ist Kiarostami empathisch. Bei ihm sind Menschen mehr als die Umstände, in denen sie leben. Sie sind sich stets im Wandel befindliche Wesen, die immer den Kontakt zu ihren Nächsten suchen und sie sowohl verstehen wollen als auch können. In seinem Film NEMA-YE NAZDIK (CLOSEUP, IR 1990) hingegen geht es um das Medium Film selbst. In der halb-dokumentarischen, auf wahren Begebenheiten basierenden Geschichte folgen wir einem Betrüger, der sich als der bekannte iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf ausgibt und lernen dabei ihn und seine Motivation kennen. Am Ende fährt er gemeinsam mit dem echten Mohsen Makhmalbaf und einem Blumenstrauß zu dem Haus der Familie, die er getäuscht hat, um sich zu entschuldigen.
Feministischer Film?
An dieser Stelle interessiert uns jedoch weder Kiarostami noch der Betrüger oder Mohsen Makhmalbaf. Makhmalbaf ist allerdings ein wichtiger Verbindungspunkt zu dem, was auch in den aktuellen Protesten stark hervortritt: den weiblichen Stimmen (des iranischen Kinos). Sowohl seine aktuelle Ehefrau Marzieh Meshkini als auch seine Töchter Samira und Hana Makhmalbaf sind selbst Filmemacherinnen. Denn obwohl Frauen im Iran wenig Freiheiten zustehen und ihnen immer wieder Steine in den Weg gelegt werden, können sie doch zumindest studieren und dadurch auch wissenschaftliche oder künstlerische Berufe ausüben. Auch wenn die gesamte Familie Makhmalbaf inzwischen im Exil lebt, behandeln ihre früheren und aktuellen Filme iranische Themen – ob direkt oder indirekt.
Familie Makhmalbaf (v.l.n.r. Hana Makhmalbaf, Marzieh Meshkini und Mohsen Makhmalbaf)
Marzieh Meshkini bekanntester Film ROOZI KE ZAN SHODAM (DER TAG AN DER ICH ZUR FRAU WURDE, IR 2000), der zum ersten Mal im Jahr 2000 bei den Filmfestspielen in Venedig zu sehen war, erzählt die Geschichte von insgesamt drei Frauen in unterschiedlichen Stadien ihres Lebens und den jeweiligen Umständen, denen sie sich ausgesetzt sehen. Das Mädchen, die junge Frau und die alte Witwe – Sie alle erfahren ihr Frausein nicht allein durch ihren weiblichen Körper, sondern vor allem durch ihr persönliches Umfeld und die sozialen Regeln, die ihnen eingebrannt werden bzw. wurden. So wundert sich das Mädchen im ersten Segment, warum sie auf einmal nicht mehr einfach so mit den Jungs spielen darf. Die Erklärungen von ihrer Mutter und Anderen wirken an den Haaren herbeigezogen. Das, was gesellschaftlich als männlich oder weiblich gilt, tritt hier in seiner höchsten Willkürlichkeit hervor.
Samira Makhmalbaf spricht in ihren Filmen ebenfalls feministische Themen an. Ihren Debutfilm SIB (DER APFEL, IR/FR 1998) drehte sie mit noch nicht einmal 18 Jahren. Wie in CLOSE-UP finden wir auch hier eine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit basiert und bei der alle Beteiligten sich selbst spielen. SIB handelt von zwei Mädchen, die ihr ganzes Leben lang zuhause eingesperrt wurden und dann nach einer Intervention durch Sozialarbeiter zum ersten Mal das Haus verlassen. In einem Interview mit IndieWire äußerte sich Makhmalbaf über den Bezug des Films zum Schöpfungsmythos und die in ihm dargestellten Familien- und Geschlechterverhältnisse. Wie es in allen abrahamitischen Religionen die Erzählung von Adam und Eva gibt, so gibt es auch in all diesen Kulturen (und darüber hinaus) das Patriarchat. Auch im „freien Westen“ gab es bereits einige Fälle von Vätern, die ihre Töchter zu Hause einsperrten, um sie vor Männern und der Welt fernzuhalten. Obwohl die kulturelle Spezifik im iranischen Kino dominant ist, beinhaltet es wie in diesem Fall häufig auch einen unübersehbaren Universalismus.
Film und Wirklichkeit bei Jafar Panahi
Kehren wir zum Schluss zurück zu Jafar Panahi. Wie verhält sich sein Kino zur Wahrheit? Zum einen ist auch er ein humanistischer Filmemacher. Seine Figuren sind keine treuen Diener*innen der Ayatollahs, sondern Menschen mit alltäglichen Sorgen und Problemen. Doch auch diese alltäglichen Probleme sind oft politischer Natur. Ob das junge Paar in KHERS NIST (NO BEARS, IR 2022), das zusammen durchbrennen und in die Stadt gehen will, obwohl die Frau eigentlich einem anderen versprochen wurde, der afghanische Junge in TAXI (TAXI TEHERAN, IR 2015), der Flaschen sammeln muss, um nicht zu verhungern oder die AFSAID (OFFSIDE, IR 2006) die sich als Männer verkleiden, um für ein Fußballspiel ins Stadion zu kommen. Sie alle tun das, was sie tun, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit im Iran so ist, wie sie ist.
Jafar Panahi
Die Dinge anders darzustellen, würde einer Lüge gleichkommen und offensichtlich konnte Panahi trotz immer neuer Repressionen nicht anders, als mit seinen Filmen die Wahrheit zu sagen. Als Strategie gegen die Zensur und seine Verurteilung begann er schließlich, seine Filme als Dokumentationen zu inszenieren. Inszenieren bezieht sich in diesem Kontext nicht nur auf filmisches, sondern auch auf politisches In Szene setzen. Alle seine Projekte seit IN FILM NIST (DIES IST KEIN FILM, IR 2011) geben zumindest teilweise vor, unverändertes Einfangen der sich spontan entfaltenden Wirklichkeit zu sein. Doch obwohl alle Figuren mehr oder weniger sich selbst spielen, sind ein Großteil der Ereignisse geskriptet. Indem Panahi immer auf dem schmalen Grat zwischen Fiktion und Dokumentation wandert, werden seine Filme zu Abhandlungen über die Darstellung der Wirklichkeit im Film selbst. Ebenfalls seit IN FILM NIST spielt Panahi auch in jedem seiner Filme selbst mit und reflektiert seine Rolle als Regisseur und Akteur in der iranischen Kunstlandschaft. Hinund hergerissen zwischen der eigentlichen Notwendigkeit zu Schweigen und dem Drang zu sprechen, findet er in keiner seiner Darstellungen eine abschließende Lösung für dieses Dilemma. Allerdings heißt das auch, dass er wie das iranische Volk als Ganzes nicht aufgibt, einen Unterschied zu machen.
Angesichts der aktuellen Proteste macht jede Person, die das Schweigen bricht und trotz staatlicher Gewalt nicht resigniert, einen Unterschied, der das Potenzial hat, Geschichte zu schreiben.