Mit 77 Jahren starb am 14. April 2022 die ehemalige Auslandsjournalistin Navina Sundaram. Sie war in Deutschland nicht nur eine der ersten Journalistinnen nicht-deutscher Herkunft, sie prägte auch das deutsche Fernsehen der 70er-Jahre mit Formaten wie PANORAMA (DE seit 1961) oder WELTSPIEGEL (DE seit 1963), welche den Fokus auf politische und gesellschaftliche Umstände in Südasien oder Afrika legten. Für das frühe deutsche Fernsehen könnte man diese außereuropäischen Berichterstattungen als ungewöhnlich bezeichnen, doch schaut man sich diese Sendungen aus heutiger Sicht an, passt diese Bezeichnung noch immer, allerdings auf andere Weise. Sundarams Beiträge wirken für das öffentlich-rechtliche Fernsehen erstaunlich kritisch. Probleme werden nicht individualisiert, sondern in einen globalen Wirkungszusammenhang gestellt. In „Hilfe, die Weltbank kommt“ aus der Sendereihe GESICHTER ASIENS (DE seit 1959) spricht Sundaram beispielsweise von der gescheiterten Entwicklung der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Durch Interviews und historischer Einordnung zeichnet sie ein Bild nach, wonach es beiden Institutionen seit der Gründung in Bretton Woods 1944 offensichtlich nie darum ging, Länder des globalen Südens zu unterstützen, sondern vielmehr sie zu industrialisieren und für den Weltmarkt gefügig zu machen, wobei die Gefahr verstärkter Klassenunterschiede und Umweltschäden ignoriert werden.
Auch die Verknüpfung mit patriarchalen Strukturen zeigt Sundaram in der Folge „Frauen in Indien“ auf, in der der Einsatz neuerer Technologie in der Landwirtschaft zur Rückentwicklung der von Frauen besetzten Arbeitsplätze geführt haben, da es nur Männern gestattet war, den neu eingesetzten Pflug zu steuern.
Die vor allem auch heute verschärfte Unterscheidung, wer nach Deutschland kommen darf, mit Fokus auf Geflüchtete aus dem Ostblock und denen anderer Kontinente, veranschaulicht Sundaram in der Folge „Asyl in der Bundesrepublik“ der Sendereihe PANORAMA aus dem Jahr 1982. Sichtbar werden Spannungen einer Zeit, in der Helmut Kohl als Bundeskanzler die CDU-Stimmen einer Ablehnung des Vielvölkerstaats groß werden ließ.
Navina Sundaram bei der Arbeit im NDR
Zu finden sind diese Sendungen übrigens in dem von der Schriftstellerin und Filmemacherin Merle Kröger erstellten Online-Archiv „Die fünfte Wand“. Das für den Online-Grimme-Award nominierte Onlineprojekt beschreibt sich als „kuratierter Blick auf deutsche Migrations- und Mediengeschichte.“ Nach kostenloser Anmeldung finden sich neben allerlei Archivaufnahmen zudem Manuskripte, Dokumentationen, rückblickende Video-Kommentare und Artikel von Sundaram. Was beim Stöbern durchs Archiv deutlich wird, ist vor allem ihre klare Haltung, wie auch die weitere Beschreibung deutlich macht: „Navina Sundaram steht dabei im Zentrum als eine Autorin, die journalistisch Position bezieht: zu Internationalismus und Dekolonisierung, Klassenfrage, Rassismus, Einwanderung, zu indischer und bundesdeutscher Politik.“
Dadurch wird ein weiterer Punkt deutlich: Die Wichtigkeit von Intersektionalität – der Betrachtung verschiedener ineinandergreifender Machtmechanismen. Die Folgen einer fehlenden Berücksichtigung dieser zeigen sich besonders in einer Sendung vom INTERNATIONALEN FRÜHSCHOPPEN (DE 1952–1987, seit 2002) eine der ersten Talk- Shows in Deutschland, in der Sundaram im Juli 1977 zu Gast war. Der boulevardeske Titel „Frauenherrschaft – wie gewonnen …“ bezieht sich auf die Wahlniederlage von Sirimavo Bandaranaike in Sri Lanka, der ersten Regierungschefin der Welt, sowie Indira Gandhi, welche als indische Premierministerin ihr Amt im Jahr der Ausstrahlung niederlegte. Das Thema der Sendung zielt scheinbar darauf ab, eine weiblich genuine Erklärung dafür zu finden, weshalb sie als politische Führungspersönlichkeiten gescheitert sind. Dabei kommt es vor allen Dingen zu frauenfeindlichen Äußerungen von Werner Höfer, dem Moderator mit stolzer NS-Vergangenheit, sowie von Reginald Steed, dem damaligen Chefredakteur der konservativen britischen Tageszeitung „Daily Telegraph“, der offenkundig deutliche Sympathien zu Margaret Thatcher hegt. Die Tatsache, dass diese wenige Jahre danach als Premierministerin Englands gewählt wurde und die bekannte Welle von staatlichem Abbau und Privatisierung nach sich zog, macht diese Aufzeichnung zu einem interessanten Zeitdokument. Laut der Videobeschreibung besonders dann, wenn Sundaram den Nord-Süd- Konflikt anspricht, von dem Steed offenbar zum ersten Mal hört. Bei weiterem Interesse an diesem Thema verweise ich auf meine ausführlichere Hausarbeit zur Sendung, die sich in „Die fünfte Wand“ unter der Rubrik „Workspace“ mit dem Titel „Über den Mangel intersektionalen Bewusstseins in ‚Frauenherrschaft’ – wie gewonnen...‘‘ (1977) und ein Plädoyer für das „Nicht-identische“ finden lässt.
In den Videokommentaren, in denen Sundaram über ihre journalistische Zeit reflektiert, betont sie vor allen Dingen die Wichtigkeit, Stellung zu beziehen. Sie spricht von einem abflauenden Engagement im Journalismus und warnt vor dem Begriff der „Entideologisierung“, der laut ihr wiederum ideologisch besetzt ist. Zudem erklärt Sundaram, dass der Weltspiegel bereits während ihrer Zeit Tendenzen eines „Reisemagazin- Charakters“ aufzuweisen schien, die sich in den kommenden Jahren verstärkten, wie die Langzeitanalyse von Nicola Meyer mit dem Titel „Boulevardisierungs-Trend in der Ausländerberichterstattung?“ bestätigt. „Die fünfte Wand“ ist daher nicht nur eine reine Ansammlung von Navina Sundarams Arbeiten, sondern zugleich auch ein Einblick in einen medialen Möglichkeitsraum, dessen Anerkennung heute vielleicht wichtiger denn je ist.
QUELLEN
- Claussen, Johann Hinrich (2022): EineWelt-Journalistin. (04.04.2023).
- Meyer, Nicola (2007): Boulevardisierungs-Trend in der Ausländerberichterstattung?: eine Langzeitanalyse der öffentlich-rechtlichen AuslandsmagazineWeltspiegel und Auslandsjournal.
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