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Gemeinschaft

„Über Politik reden wir hier nicht“

Leipzig gilt als Ursprung der Schrebergartenkultur. Vogeltränke, grüne Hecke, olle Gartenlaube: Der eigene kleine Garten in der Stadt steht für Erholung und Idylle. Schlagzeilen wie: „Nur Deutsche haben Zwerge” (taz) und „Idylle bis Rassismus: Kleingärten als Mini-Abbilder von Deutschland” (MAZ) weisen auf Brüche in diesem Klischee hin. Wie begegnen sich politische Einstellungen und Idylle auf ein paar Quadratmetern? Unsere Autorin hat den ältesten Schreber-Verein Deutschlands besucht.


E r sucht die Nummer 52. Leicht vornübergebeugt, schnellen Schrittes und auf den Boden blickend, huscht er orientierungslos durch die Gänge. Hier entlang, in dieser Reihe muss sie sein. „Nummer 72, dann ist’s doch noch eine Reihe weiter.“ Nächste Reihe. Nummer 70. „Wissen se, wo die Nummer 52 ist?“, fragt Horst eine Frau im Garten mit der Nummer 70. „Nee, hier ist die 70.“ Noch eine Reihe weiter. Langsam wird das, wonach Horst sucht, hörbar. Er nähert sich der 52. Ein Rauschen, ein Spritzen und da ist er. Der Wasserschlauch, der wohl vergessen wurde abzudrehen. Horst eilt in den Garten mit der Nummer 52. Zügig versucht er, den spritzenden Wasserschlauch abzustellen. Das Beet ähnelt schon einer matschigen Pfütze. Einseitig nass, von den Knien aufwärts bis zur Brust, dreht er sich lächelnd um. „Geschafft“. Horst zieht weiter Richtung Nummer 15, sein Garten.

Horst (li.) und Pauli (re.) im Kleingarten mit der Nummer 15 | Foto: Clarissa Hofmann

Das kommt schon mal vor, dass ein Wasserschlauch nicht abgedreht wird. Eine aufmerksame Nachbarin hat es dem Vorstand gemeldet. Eckhardt Schrepfer, 57 Jahre alt – was dem Durchschnittsalter der Vereinsmitglieder entspricht –, Erster Vorstandsvorsitzender, hat daraufhin Horst angerufen und ihn gebeten, den Garten ausfindig zu machen und den Schlauch abzudrehen. Der kenne sich da oben aus, meint Schrepfer.

Auf den ersten Blick erscheint der Kleingärtnerverein sehr einheitlich. Saubere, ordentliche und schöne Kleingärten. Blumen, Beete und Buchsbäumchen zeigen sich bei einem Blick über die maßgeregelte Hecke oder den Zaun. Nach längerem Betrachten kommen jedoch Unterschiede zum Vorschein. Einige Pächter:innen befolgen streng die Regeln und engagieren sich im Verein. Andere versuchen die Regeln so gut es geht einzuhalten und sind bemüht, in ihrem Garten, gemäß der Kleingartenordnung, Anbaufläche zu schaffen und regelmäßig die Hecke zu stutzen. Die Unterschiede, die sich in der Art und Weise des Gärtnerns und des Regeln-Befolgens zeigen, gehen mit verschiedenen politischen Einstellungen einher. Diese scheinen allerdings keinen Platz in dem Kleingärtnerverein zu haben. Höchstens in den Gruppen, im Privaten, auf der Terrasse einer Gartenlaube. Über den Zaun oder die Hecke hinweg würde Politik nur zu Konflikten führen und diese wiederum, würden das private hart erarbeitete Kleingarten-Idyll zerstören. Es ist ein merk:würdiger Ort, dieser Kleingartenverein.

Am 10. Mai 1864 wurde der heutige „Kleingärtnerverein Dr. Schreber“ gegründet. Allerdings war der erste Schreber-Verein zu Beginn noch gar kein Kleingartenverein, weshalb Moritz Schreber, Orthopäde und Hochschullehrer aus Leipzig, fälschlicherweise der Namensgeber der Kleingärten geworden ist. Anfangs war der Schreber-Verein, gegründet von Ernst Hauschild, ein pädagogischer Erziehungsverein mit dem Ziel, dass sich Kinder und Jugendliche mehr bewegen. Die Gartenkomponente kam dann zwar ein paar Jahre später hinzu, allerdings war sie lange Zeit nur eine von vielen. Im Jahr 1870 waren bereits etwa 100 Kleingärten eingerichtet. So steht es in der „Festschrift zum 140-jährigen Bestehen des Kleingärtnervereins ‚Dr. Schreber‘ e.V.“ aus dem Jahr 2004. Ein Geruch von lackiertem Holz und alter Gartenlaube entfaltet sich passenderweise mit dem Öffnen des Heftes.

„Zucht und Ordnung müssen sein”

Angekommen im Kleingarten Nummer 15. Paul, Pächter des Gartens Nummer 108, sitzt schon in einem Gartenstuhl auf der Terrasse vor der Laube und wartet. Horst nennt ihn „Pauli“. Es ist ordentlich, alles hat seinen Platz. Ein Drittel Weg und Gartenhäuschen, ein Drittel Gras und ein Drittel Anbaufläche. Horst holt Bier aus der Laube. „Gekühlt oder warm? Aus dem Glas oder aus der Flasche?“, fragt er im Weggehen. Pauli bleibt vorfreudig zurück. „Bier wird hier großgeschrieben“, betont er. Nicht nur Bier, wenige Minuten später stellt er einen selbstgemachten Kirsch-Likör auf den Tisch. Horst verschwindet wieder in seiner gut ausgestatteten Laube, um Gläser für einen Kurzen zu holen. Die Kirschen sind frisch gepflückt. Pauli ist frischgebackener Rentner. „Jetzt habe ich die Zeit für sowas“, erzählt er. Vor der Rente war er Maurer und Fliesenleger. Er tut anderen Gärtner:innen hin und wieder einen Gefallen rund ums Handwerkliche. Aber bald würde das auch weniger werden, mit seinen 67 Jahren. Auf die Frage, wie alt Horst sei, entgegnet dieser: „Ein Mann ist so alt, wie er sich fühlt und eine Frau, wie sie sich anfühlt.“ Die beiden schmunzeln. Das Gespräch baut sich langsam auf. Weg vom oberflächlichen Erzählen über den Garten – Gurkenzelt, Mehltau, Regentonne – hin zum Privaten. Hobbies oder auch Nichthobbies – Paul bezeichnet sich als Kulturbanause –, Familie, Paulis Enkelkinder. Horst mag keine Kinder, sie würden stinken. Doch über das Private hinaus, hin zu politischen Einstellungen und Meinungen kommt das Gespräch nicht. Aber es fallen Satzfetzen wie „Journalismus ist schwierig“ und „Zeckenhochburg Connewitz”. Pauli schüttelt den Kopf. „Über Politik reden wir hier nicht.“ Es würde nichts bringen, nur Streitereien. Das Idyll und die Ordnung sind wichtig und sollen nicht aufgemischt werden. Es gehe hier um die Erholung und die Geselligkeit, aber „Zucht und Ordnung müssen sein”, meint Horst. Damit nichts die Ruhe stört.

„Die, die nichts tun, meckern grundsätzlich mehr.“

Für alle 156 Gärten gelten Vorschriften, an die sich die Pächter:innen halten müssen. Die Hecke ins Innere des Vereinsgeländes darf nicht höher sein als 1,60 Meter. Die nach Außen soll auf 1,80 Meter kommen, um einen Sichtschutz zu bewahren. Bestimmte Baumarten, wie Hasel, Weißdorn oder Kastanie dürfen nicht gepflanzt werden. Generell darf die Baumhöhe 2,50 Meter nicht überschreiten. Jedes Bauvorhaben muss vorher vom Vorstand genehmigt werden und eventuell ein Bauantrag gestellt werden. Das gilt zum Beispiel auch für ein kleines Kinderspielhaus aus Holz. Da gab es schon mal einen Streit, erzählt Schrepfer. Ein Zelt oder einen Pool aufzustellen, ist laut Kleingartenordnung untersagt. Eckhardt Schrepfer drücke aber auch mal ein Auge zu, sagt er.  Der Garten dient zwar auch als Freizeit- und Erholungsort, aber das Gärtnern darf nicht zu kurz kommen. Das und vieles mehr wird, laut Vorstand, einmal im Jahr bei einer sogenannten Gartenbegehung überprüft. „Es gibt immer wieder Diskussionen“, erzählt Ina Mikolajczak, die Zweite Vorstandsvorsitzende. Manche wollen es nicht verstehen, obwohl sie wüssten, dass es die Kleingartenordnung gibt und welche Regeln spielen. So auch die zehn Arbeitsstunden im Jahr. Die, die sie nicht leisteten, müssten bezahlen. Aber das sei nicht der Sinn der Sache. Der Verein brauche die Menschen, die sich engagieren. Es werde immer schwerer, Positionen wie Verantwortliche für Wasser und Strom oder auch die Sicherheit neu zu besetzen. Schrepfer meint: „Die, die nichts tun, meckern grundsätzlich mehr.“

Bei den Arbeitsstunden könnten die Pächter:innen miteinander in Kontakt kommen, meint Mikolajczak. Neben der jährlichen Mitgliederversammlung mit Umtrunk und Schmaus hinterher, sei das die einzige Möglichkeit für eine Durchmischung der Vereinsmitglieder. Bei dieser Veranstaltung sei aber nur rund die Hälfte der Mitglieder anwesend, erzählt Vorstandsvorsitzender Schrepfer. Der harte Kern des Vereins und noch ein paar andere. Dennoch im oberen Durchschnitt, wenn man sich Mitgliederversammlungen anderer Vereine anschaue, meint er. Das Sommerfest gibt es seit 2019 nicht mehr. Das war damals ein Flop, weil es zu heiß war und später, nach Corona, hat es gar nicht mehr stattgefunden.

Schrepfer sitzt auf einer Bank an der öffentlichen Spielwiese des Kleingärtnervereins. Seit 2017 ist er im Vorstand des ältesten Schreber-Vereins. Eine Gruppe von Jungs spielt Fußball und hört Pop-Musik über eine Box. Schrepfer bittet sie, leiser zu stellen. „Das ist leider so gar nicht meine Musik“, sagt er. Der Ball wird mehrere Male gegen das Holztor von Garten Nummer 102 geschossen. „Das kann ganz schön teuer werden, allein eine Latte für das Tor und die Arbeit, die dahintersteckt.“ Aber dafür könnten die Kinder nichts, die Eltern heutzutage seien dümmer, würden nicht lesen, was auf der Hinweistafel am Eingang steht, seien schlechte Vorbilder für ihre Kinder. Und am Ende ist Schrepfer froh, dass sie sich überhaupt bewegen. Ganz im Sinne der Ursprungsidee des Schreber-Vereins. Immer wieder dreht er sich zu den Jungs um, wenn der Ball wieder und wieder gegen das Gartentor aus Holz knallt. Kurzes Durchatmen und er redet weiter.

„Gleiches Recht für alle, solange die Regeln eingehalten werden“

Die Vereinsarbeit sei politisch neutral. „Man muss sich die politische Meinung nicht anhören. Ich mache meine Tür zu, sage ‘Guten Tag’ und gut ist.“ Gemeinsame Basis ist das Gärtnern, Meinungsverschiedenheiten werden nicht ausgetragen. Schrepfer erzählt von netten Migranten im Verein. Sie sind mir in den letzten Tagen nicht begegnet. „Gleiches Recht für alle, solange die Regeln eingehalten werden“, wirft Schrepfer hinterher. Er ist froh über das klare Regelwerk im Verein. Seine Hilfe tätige er nur gewählt, er möchte kein Futter für Tratschereien streuen. Aber er sei loyal gegenüber allen Mitgliedern.

Horst läuft vorbei und bleibt einen Moment stehen. „Lass dich drücken“, sagt Schrepfer zu ihm. Sie umarmen sich. In Schrepfers Augen ist Horst „die gute Seele des Vereins“. Er will später auch so sein wie der Horst, sagt er. „Immer ein Lächeln im Gesicht.”

„Neue Besen kehren gut”, sagt Schrepfer und meint damit sich selbst. Und gutes Kehren sei ihm wichtig. Im Garten 101 merkt Maria, dass der neue Besen gut kehrt. Sie pachtet die 101 jetzt schon seit 16 Jahren. Der Kleingartenverein sei eine Vorzeigesiedlung, aber vor 2017 sei der Vorstand lockerer gewesen, meint sie. Ordnung fällt ihr schwer, auch die Regeln einzuhalten. Es gibt hin und wieder Knatsch. Die Regeln werden unterschiedlich scharf betrachtet. Zum Glück wurden ihre Hochbeete als Anbaufläche akzeptiert. Um die Beete einzurichten hatte sie eine Firma beauftragt. Die komplette Außenhecke hat kürzlich ihre Nachbarin mitgeschnitten. Glücklicherweise, Maria hatte keine Zeit dafür. Die Gartenbegehungen stressen sie. Es werden Protokolle geschrieben, die Hecke sei zu hoch, der Anteil an Wiese zu groß. „Das gabs vorher nicht.“ Der alte Vorstand sei zufrieden gewesen mit ihrem Garten.

Die Gartenarbeit darf nicht fehlen: Maria bewässert die Pflanzen in ihrem neuen Hochbeet. | Foto: Clarissa Hofmann

Auch im Garten mit der Nummer 92 wird mit einem Hauch von Unmut von den Gartenbegehungen berichtet. Die Pächter:innen des Gartens sind Maike und Christian. Sie haben zwei kleine Kinder und wohnen nur etwa zehn Gehminuten entfernt. Wie bei Maria ist auch hier die Rede von zwei Gartenbegehungen im Jahr. Die Mitglieder des Vorstands sprechen nur von einer. Vielleicht gibt der damit verbundene Stress den Dreien das Gefühl, dass die Begehungen öfter stattfinden oder der Vorstand versucht, weniger streng zu wirken als er ist. Die Gemeinschaft beschreibt Maike als mäßig vorhanden. Man helfe sich gegenseitig, aber Themen, außer denen rund um den Garten spielten im Austausch keine Rolle. Politische Konflikte würde es mitunter auch geben, besonders während der Corona-Pandemie. Die Einstellungen seien sehr verteilt im Verein, vom linken Spektrum über Coronaleugner:innen bis Reichsbürger:innen. Aber auch hier: „Unser Garten hat mit den anderen nichts zu tun”, sagt Christian.

„Bei anderen ist die Laube fast schon ein zweiter Haushalt“

Wieder in der 101. Maria holt Eis aus dem Gefrierschrank in der Gartenlaube. Darin herrscht Unordnung. Maria verstaut dort die Dinge, die sie im Garten nutzt. Das ist alles. „Bei anderen ist die Laube fast schon ein zweiter Haushalt“, sagt sie. Bei Maria nicht. Ihre Tochter Johanna hat im Garten laufen gelernt. Sie wohnen nicht weit, es ist ihr Erholungsort und auch „Naschgarten“. Hier und da gibt es frische Ernte für den direkten Verzehr. Der Garten ist besonders grün, auffällig viel Wiese zum Spielen, Dösen und Lesen. Und auch dafür, hin und wieder einen Pool aufzustellen. „Auch wenn man sich manchmal ärgert, kann man hier gut miteinander auskommen“, meint Maria. „Auf unserer Zeile sind alle sehr nett.“ Den Rest kenne sie kaum. Die politische Meinung ihrer Nachbar:innen rechts und links kenne sie gar nicht, meint sie, fast schon erstaunt über sich selbst.

Austausch über Gartenarbeit hinaus findet auch statt. Im Kleinen. In den Grüppchen. Im Privaten. Im eigenen Idyll, mit den Menschen, die das Idyll nicht kaputt machen. Horst hat mal wieder Besuch in seinem Garten mit der Nummer 15. Auf dem Tisch steht Bier. In der Laube gibt es Essen, gekocht in seiner komfortablen Einbauküche. Eckhardt Schrepfer ist da und zwei weitere Gäste. Morgen findet in seinem Garten ein Sommerfest statt, erzählt Horst. Ein privates Sommerfest, nicht so eins mit allen, wie noch vor vier Jahren.

Quellen