E in warmer Sommerabend am Connewitzer Kreuz. Vier Jugendliche lungern inmitten einer Ansammlung von Bierflaschen herum. Ploppende Kronkorken und klirrende Flaschen geben ihrer untätig-aggressiven Grundstimmung einen unsteten Rhythmus. Aus einem Lautsprecher dröhnt Punkrock von „Terrorgruppe”: „Ja, wo ich geh und wo ich steh, weiß jeder alles besser / Doch ich hab das bess're Argument, mein Schweizer Taschenmesser.” Die Musik und das Anarcho-A auf ihrer Kleidung lassen an ihrer politischen Haltung keine Zweifel. Unvermittelt löst sich einer der Teenager aus der Gruppe und pöbelt wahllos Unbeteiligte an: Irgendwo muss all der Unmut schließlich hin.
Diese Szene hat sich so in Connewitz abgespielt. Und zwar vor Kurzem auf einer Bühne des Werk 2, einem soziokulturellen Zentrum am Connewitzer Kreuz. Auf Grundlage der medialen Berichterstattung scheint sie jedoch nicht weit hergeholt: Immerhin nannte die BILD-Zeitung den Stadtteil 2015 eine gefährliche „No-Go-Area”, der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung sprach nach den Protesten im Zusammenhang mit Lina E. von „durchgeknallten Straffälligen in Connewitz”.
Seit Jahrzehnten ist Connewitz identitätsstiftend für die linke Szene, Hassobjekt der Rechten, mitunter Zankapfel der kommunalen Politik. Die Wechselwirkungen zwischen Connewitz selbst, seinem Ruf und seiner medialen Repräsentation sind komplex und bisweilen widersprüchlich. Will man diesen Stadtteil verstehen, muss man sich selbst dorthin aufmachen – und mit Connewitz sprechen.
Das soziokulturelle Zentrum „Werk 2“ am Connewitzer Kreuz| Foto: Finn Gessert
Der Ex-Punk: Normalos im Szeneviertel
Wer am zentral gelegenen Connewitzer Kreuz aus der Straßenbahn steigt, dem offenbart sich ein typisches Großstadtviertel: links ein Supermarkt und ein Bäcker, rechts vierstöckige Gründerzeithäuser, davor ein paar Grünflächen und Parkplätze. Erst allmählich zeigt sich, wie flächendeckend besprüht die Wände und wie stark mit Stickern beklebt die Straßenlaternen sind. Antifa, Roter Stern, Rebel Kid.
An einer der sieben Straßen, die das Connewitzer Kreuz bündelt, steht ein über und über bespraytes Fabrikgebäude. Inzwischen beherbergt es das Werk 2, eine Institution des kulturellen Lebens in Connewitz. Die Programmtafel am Eingang zeigt das Abendprogramm an: „Scherbenhelden”, das Theaterstück mit den krawalligen Jugendlichen aus der eingangs beschriebenen Szene.
„Scherbenhelden” basiert auf dem gleichnamigen Roman von Johannes Herwig. Sein ganzes Leben hat der tätowierte Mittvierziger in Connewitz verbracht, war in den Neunzigerjahren als Punker aktiv und ist seit 2013 Autor. In „Scherbenhelden” verarbeitet er die Erfahrungen seiner Jugend im Leipziger Süden während der Wendezeit. Das Buch zu schreiben, sei ihm nicht leicht gefallen. „Es ist einfach schwierig, verständlich zu machen, wie sich das damals angefühlt hat”, erzählt Herwig und meint damit: Frust, Verzweiflung, ein Gefühl von Aussichtslosigkeit im neuen System.
Im Zuge der Wiedervereinigung haben viele Erwerbstätige im Osten ihre Existenzgrundlage verloren: 825.000 Arbeitslose gab es laut dem Zentrum digitale Arbeit kurz nach der Wiedervereinigung in den ostdeutschen Bundesländern – im Vergleich zur Vollbeschäftigung in DDR-Zeiten eine gewaltige Zahl.
So etwa der Vater des „Scherbenhelden”-Protagonisten Nino, der in der DDR als Schuhmacher selbständig ist, durch die Wende seinen Job verliert und seitdem depressiv zuhause sitzt. Und dann ist da noch der aufkeimende, mitunter gewalttätige Rechtsextremismus. Der Leipziger Süden habe in dieser Zeit eine besondere Rolle für linke Strömungen gespielt, erklärt Herwig. „Dort hat die alltägliche Bedrohungslage durch Rechtsextreme irgendwann abgenommen, weil es viele Leute gab, die sich gewehrt haben”.
Wieso allerdings ausgerechnet Connewitz zum linken Szeneviertel schlechthin wurde, ist schwer nachzuzeichnen. Schon in den 1970er Jahren galt Connewitz als alternativ, aber auch als Arbeiterviertel. Viele Straßenzüge standen leer, gleichzeitig gab es einen Mangel an staatlicher Autorität. So begannen Hausbesetzer:innen, sich in den leerstehenden Gebäuden Freiräume für Subkultur und Politik zu schaffen.
„Im Viertel hat sich ein alternatives Leben konzentriert und schließlich auch behauptet. Das hat sich inzwischen aber auch diversifiziert, hier leben mega viele Normalos”, erzählt Herwig. „Das kommt in der Berichterstattung über Connewitz ein bisschen zu kurz.”
Connewitz, wie es leibt und lebt: Besprayte Wände neben klassischen Familienhäusern| Foto: Finn Gessert
Der Pfarrer: Punks im Kirchenvorstand
Gleich um die Ecke vom Werk 2 stehen zwei der wenigen nicht besprühten Gebäude des Stadtteils: Die evangelische Paul-Gerhardt-Kirche und ihr Pfarramt. „Bei unserer Gemeinde ist die Kultur nur einen Steinwurf entfernt”, witzelt Pfarrer Christoph Reichl schelmisch. Gemeinsam mit Pfarranwärterin Nicole Bärwald-Wohlfarth kümmert er sich um eine nicht ganz gewöhnliche Kirchengemeinde. „Sehr offen, aber auch kritisch“, beschreibt Reichl seine Gemeindemitglieder mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. „In etwa so verstehen wir uns auch als Kirche. Also linksliberal und weltoffen“, fügt er hinzu.
Die Frage, inwiefern Kirche in Connewitz politisch sei, beantwortet er entschieden mit einigen Anekdoten aus der Gemeindearbeit: Wie sie als Kirche eine Gebetswache anmeldeten, nachdem Rechtsextreme in Connewitz demonstriert hatten – um zu zeigen, „dass links nicht allein ist“. Oder wie sich die Kirchen im Leipziger Süden im Jahr 2020 zusammenschlossen und als erste Amtshandlung ein politisches Statement zur Flüchtlingshilfe im Mittelmeer verfassten.
Die Gemeindemitglieder würden aber auch die ganz alltäglichen Sorgen umtreiben, fügt Pfarranwärterin Bärwald-Wohlfarth hinzu. Kitaplatz- und Schulsuche bei den Eltern, Sicherheit und Mobilität bei den Älteren. Ist Connewitz also doch kleinbürgerlicher und spießiger als gedacht? „Die Punks, die Connewitz damals als linksalternatives Viertel mit aufgebaut haben, sind in die Jahre gekommen“, antwortet die Pfarranwärterin. Manch ein Ex-Punk sei heute sogar im Ortsausschuss des Kirchenvorstands, ergänzt Pfarrer Reichl belustigt.
Aber nicht nur Ex-Punker, die heute kleinbürgerlich leben, kratzen am Image des linksalternativen Viertels: Viele derjenigen, die das Image von Connewitz als linke Hochburg noch aufrechterhalten würden, seien gar nicht in Connewitz ansässig, so Reichl. Gerade die Jüngeren würden eher im Osten und Südosten der Stadt leben, weil die Mieten dort günstiger seien. Tatsächlich liegen die Mietpreise laut der Leipziger Volkszeitung, die sich dabei auf Daten der Stadt Leipzig bezieht, in Connewitz bei 8,55 Euro pro Quadratmeter. Das ist zumindest deutlich höher als in den südöstlichen und östlichen Leipziger Stadtteilen.
Hier teilen sich die alternative Szene und kleinbürgerliches Familienleben dieselben Straßen | Foto: Finn Gessert
Der Familienvater: Hier lebt es sich gut
Ein langhaariger, tiefenentspannter Familienvater am Herderspielplatz wohnt zwar nicht direkt im Viertel, ist aber oft hier. Namentlich möchte er nicht genannt werden. Wenn sein Sohn wieder nach ihm ruft – „Papaaa“ mit langgezogenem „a“ – schaut er kurz zu ihm herüber, schubst ihn einmal kräftig an und redet dann unbeirrt weiter: „Connewitz ist geil – perfekt für Familien. Man hat hier wirklich alles, was man braucht. Viel Grün, offene und engagierte Menschen, einen super Spielplatz”. Er sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, als nerve es ihn, wenn andere die Sicherheit und Lebensqualität von Connewitz in Frage stellen. In der Tat: Eine Statistik der Stadt Leipzig verzeichnet von 2017 bis 2021 deutlich mehr Straftaten in anderen Vierteln, wie zum Beispiel Plagwitz, Reudnitz-Thonberg oder Möckern.
„Papaaa“ – das Kind ist mittlerweile am Klettergerüst angekommen und verlangt nach Unterstützung. Ob er nicht schon allein klettern könne, ruft der Vater. Sicherheitsbedenken im Viertel, fährt er fort, habe er jedenfalls keine. Denn Unruhen kämen selten vor und konzentrierten sich sowieso nur auf einzelne Orte, da brauche man sich keine Gedanken zu machen. Das leuchtet ein: Veranstaltungen wie Tag X etwa, an dem Anfang Juni Linksextreme in Connewitz gegen das Urteil von Lina E. demonstrierten, gibt es schließlich nicht alle Tage. Wenn überhaupt, dann müsse man Angst vor Rechtsextremismus haben, findet der Vater. Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Ich will ja nicht politisch sein, aber dieser Nazi-Scheiß, der nervt.“
Neubauten auf der Biedermannstraße | Foto: Finn Gessert
Das Jugendzentrum: Wir machen uns die Welt
Durchaus politisch sein möchte dagegen das „Conne Island“. Das 1991 gegründete Jugendzentrum liegt etwas abseits vom Rest des Viertels, und ist doch mittendrin in dessen politischem Leben. Man sieht sich hier als diskriminierungsarmen Raum mit linkem Selbstverständnis – für all jene Menschen und Subkulturen, die von der Norm abweichen. „Wir sind sozusagen ein riesiger DIY-Laden für diejenigen, die nicht Vorgefertigtes konsumieren, sondern selbst gestalten wollen”, so bringen die Mitarbeitenden das Island auf den Punkt. Auch sie möchten nicht namentlich genannt werden.
Wer sich beteiligen möchte oder einen Raum für politische Arbeit sucht, ist zum allwöchentlichen offenen Plenum eingeladen. Hier wird seit 30 Jahren schon im Kollektiv ausgehandelt, wem das Island eine Plattform bieten soll. Das können Bands sein, marxistische Lesekreise, Mobilisierungsveranstaltungen oder Aktivismus-Workshops. „Dabei haben wir als Island keine einheitliche Linie”, stellt eine Mitarbeitende fest, „es ist eher so eine Art Wabern zwischen Grundwerten”. Diese Selbstverwaltung in Eigenverantwortung ist nicht selbstverständlich: In anderen Städten entscheidet kein Plenum, sondern die Stadtverwaltung.
Sicherlich trägt das Island mit seiner politischen Arbeit zum Mythos Connewitz bei, der in der Wendezeit aufkam und das Viertel bis heute begleitet. Doch aufrechterhalten wird er laut den beiden Mitarbeitenden nicht nur von der alternativen Szene selbst: „Die CDU braucht den Ruf von Connewitz halt, um Wahlkampf zu machen.”
Der Name des Jugendzentrums „Conne Island“ spielt auf das New Yorker Amüsierviertel Coney Island an | Foto: Finn Gessert
Das alte Kino: unpolitisch kultiviert
Weg vom südlichsten Zipfel des Viertels und zurück auf die Wolfgang-Heinze-Straße zu Haus 12a. Hier verbirgt sich hinter einer unscheinbaren Fassade das UT, Leipzigs ältestes Lichtspieltheater. Inzwischen stehen nicht mehr viele Filme auf dem Programm – stattdessen geben sich Punkbands, Sinfonieorchester, der Connewitzer Fußballverein Roter Stern und sogar der MDR-Kinderchor die abgenutzte Klinke in die Hand.
„Nur Parteipolitik hat hier keinen Platz“, stellt ein Mitarbeiter des UT Connewitz e.V. klar, der anonym bleiben möchte. „Aber links verortet sind wir natürlich schon“, fügt er gleich darauf hinzu. Das kulturelle Leben ist in seinen Augen so lebendig wie eh und je – nur dass jetzt eben jüngere Leute das weiterführen, was es schon in den 1980ern als alternative Szene gab. Eine Szene, die schon seit jeher nicht vorrangig von Geld zu leben scheint: Hier im Union-Theater etwa engagiert sich niemand gegen Bezahlung – sondern freiwillig und aus Überzeugung.
Veränderungen im kulturellen Leben in Connewitz sieht der Mitarbeiter gelassen – Corona hätte da mehr negative Folgen als die Gentrifizierung. „Inzwischen haben wir hier eben nicht mehr nur die Leipziger Punkband, sondern auch feiernde Erstis.“ Unverständlich sind ihm nur diejenigen, die aufgrund des Hypes nach Connewitz ziehen, dann aber auf die Nachtruhe um 22 Uhr pochen.
Schon zu Beginn des Gespräches mit dem UT-Mitarbeiter ist klar: Es wäre ein Fehler, seine Gelassenheit mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. „Hier müssen sie mich raustragen, mit den Füßen zuerst.“
Die abgenutzten Wände des UT zeugen von dessen bewegter Geschichte | Foto: Finn Gessert