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Neugierde

Chai und Asphalt

Über keine andere Straße in Leipzig wird so hitzig diskutiert wie über die Eisenbahnstraße. „Die kriminellste Straße Deutschlands” heißt es oft. Mit diesen Gerüchten möchte unsere Autorin aufräumen. Auf Spurensuche über acht Stationen.


Text von

Lilli Braun

D ie Leipziger Eisenbahnstraße hat viele Namen. „Ferner Osten“ nennt sie zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. Das liegt daran, dass es auf diesen anderthalb Kilometern viele arabische und türkische Supermärkte und Imbisse gibt. Die großzügigen Auslagen mit Obst, Gemüse und Unmengen an Gewürzen rufen Bilder fernöstlicher Basare hervor, es riecht nach gebratenem Fleisch und vor den Geschäften sitzen Männer in bunten Polohemden und trinken Chai. Die Straße führt durch vier Stadtteile im Leipziger Osten: Neustadt-Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Sellerhausen und Stünz. Es herrscht ein lebendiges Neben- und Durcheinander, überall passieren Dinge gleichzeitig. Ein junger Mann eilt durch den Verkehr, um die abfahrende Tram noch zu erwischen, zwei Meter weiter streiten sich zwei Teenager, ein Junge brettert mit dem Skateboard über den unebenen Gehweg. Stillstand gibt es hier keinen, trotzdem ist es nicht hektisch. Bei all dem Trubel scheinen die Menschen ihre Ruhe zu bewahren.

Das ist die eine Seite. In weniger wohlwollenden Beschreibungen wird die Eisenbahnstraße „Schiefe Bahn“ (Zeit) genannt oder „Gefährlichste Straße Deutschlands“ (taff) oder „die kriminellsten 1,5 Kilometer Deutschlands“ (Fokus). Neben Basaren, Tee und Gelassenheit löst das Narrativ des Fernen Ostens noch andere Assoziationen aus. Waffen, Kriminalität, Drogen – auch das macht die Eisenbahnstraße aus. Zumindest für diejenigen, die noch nie dort waren. Wie begegnet man so einer Straße? „Wahrscheinlich fällt es dir gar nicht auf, wenn du da bist“, sagen mir Bekannte, als ich ihnen von meinen Recherchen erzähle. „Aber alleine gehst du nicht dorthin, oder?“. Dass die Eisenbahnstraße nicht die heile Welt ist, ist kein Geheimnis. Immer wieder ereignen sich hier kriminelle Vorfälle, abgerissene Plakate liegen auf dem Gehweg und natürlich bemerkt man auch die gesellschaftlichen Spannungen, die es hier auf der Straße gibt. Spricht man mit den Menschen hier, bemerkt man die Skepsis, dass der nächste Superlativ kommt. Vorurteile gehen hier in beide Richtungen, nur, dass die einen problemlos mit ihnen leben können und die anderen nicht. Von den Menschen, die ich getroffen habe, begegneten mir die meisten mit Offenheit. Aus kurzen Fragen wurden Gespräche. Über die Eisenbahnstraße, über Rassismus, über Willkür und über Heimat.

Eisenbahnstraße 43

Ferdi treffe ich als ersten auf der Eisenbahnstraße. Als wir Fotos von einem Gemischtwarenladen machen, stellt er sich plötzlich vor die Kamera und posiert. Gerade saß er noch im Imbiss nebenan und hat Chai getrunken. Im Gemischtwarenladen gibt es alles: Badeschlappen, Handtücher, Mülleimer, Koffer, Rucksäcke, Spielzeug, Deko. Ferdi gehört der Laden nicht, sondern einem Freund von ihm. Der ist gerade beim Friseur. Ferdi hat ein breites, gütiges Grinsen im Gesicht. Er lädt mich zum Chai ein und erzählt von seiner Frau, für die er 1993 nach Deutschland immigriert ist. Nach Leipzig. Nicht in die Eisenbahnstraße, aber in die Nähe, nach Neu-Schönefeld. „In den Neunzigern war es hier besser“, sagt er. Weil ab den 2000ern auch immer mehr deutsche Geschäfte an der Eisenbahnstraße aufgemacht hätten, wie Ferdi erzählt. „Danach gab es für uns keinen Platz mehr." Wenig später beginnen die Medien zu berichten. Die Erzählung von der kriminellen Meile bleibt nicht ohne Folgen. Die Waffenverbotszone zum Beispiel: „Gibt’s die noch, ich weiß es gar nicht“, sagt er. Seit 2018 darf in dieser Zone niemand eine Waffe mit sich führen. Ab wann ein Gegenstand eine Waffe ist, entscheidet die Polizei. Sie darf Personen auch ohne konkreten Anlass kontrollieren. „Die haben hier ein paar Schilder hingestellt, was bringt das schon?“, sagt Ferdi. „Wir“ und „die“ – diese Unterscheidung begegnet mir oft auf der Eisenbahnstraße. Hier leben zwar alle zusammen, aber einen richtigen Austausch scheint es nicht zu geben.

Ferdi passt heute vor dem Gemischtwarenladen eines Freundes auf | Foto: Clarissa Hofmann


Eisenbahnstraße 84

An der Ecke zur Hermann-Liebmann-Straße steht ein Gebäude, dessen Fassade mit roter und schwarzer Farbe beworfen wurde. Vorher stand hier mal „No Cops“ und es hingen Plakate an den Fensterscheiben, die in mehreren Sprachen zu Protesten gegen Polizeigewalt aufriefen. Zuvor waren nicht nur Farbbeutel, sondern auch Steine geflogen. Hier soll nun eine Polizeiwache eingerichtet werden. Das bedeutet für die Eisenbahnstraße das Ende der Waffenverbotszone, denn die soll dann endgültig abgeschafft werden. Drei Jahre lang wurde die Straße mit gelben Schildern gesäumt, auf denen eine Pistole, ein Klappmesser, ein Schlagstock und eine Dose Pfefferspray abgebildet waren. Solche Schilder bedeuten freie Hand für Polizeikontrollen, die so verdachtsunabhängig durchgeführt werden können. Kontrolliert werden kann jede:r, allein die Polizei entscheidet darüber, wer verdächtig aussieht und wer nicht. Auch hier wird zwischen „die“ und „wir“ unterschieden, so sehen es zumindest viele auf der Eisenbahnstraße. Für mehr Sicherheit sorgt das nicht. Das ergab eine Studie, die von der Stadt Leipzig durchgeführt wurde. 2021 wurde die Waffenverbotszone für unwirksam erklärt, abgeschafft ist sie trotzdem noch nicht. Das soll erst dann passieren, wenn die neue Polizeistation da ist.

An der Ecke zur Hermann-Liebmann-Straße soll eine Polizeiwache eingerichtet werden | Foto: Clarissa Hofmann


Eisenbahnstraße 97

Das Goldhorn ist eine Bar, die vor allem Studierende besuchen. Runde Tische, Cocktailsessel, Efeututen, Diskokugel. Die Bar will nicht so recht ins Bild der Straße passen. Tagsüber entspannen hier Leute an den mit Draht festgeketteten Tischen. Unter ihnen sind Ibo und Bilowski. Sie trinken Fanta und rauchen. Seit zwölf Jahren wohnen sie schon in der Eisenbahnstraße. Die Straße ist ihr Lebensmittelpunkt. Sie kennen die Leute hier, grüßen immer wieder mal jemanden, der vorbeiläuft. Sie kennen aber auch die Gerüchte, die über die Eisenbahnstraße kursieren. Sie verstehen, wie die Straße funktioniert, kennen das Leben hier. Umso enttäuschter sind sie, dass es so viele Vorurteile darüber gibt. „Gefährlichste Straße Deutschlands, das ist einfach gelogen“, sagt Ibo. „Klar gibt es hier ein paar Probleme, aber die gibt es woanders doch auch“. Er erzählt von seinen Eltern, die in Eilenburg wohnen. Einer Kleinstadt, gerade mal 30 Kilometer von Leipzig entfernt. Auf dem Land machen sie viel häufiger Erfahrungen mit Rassismus. „Dagegen ist das hier ein friedliches Miteinander.” Sie rufen einen Mann mit kurzen schwarzen Haaren, Jogginghose und grauem T-Shirt von der gegenüberliegenden Straßenseite zu sich herüber. Es ist Jamal. Er könne viel über die Straße erzählen. „Wisst ihr, Bilowski hat 27 Kinder, alle mit deutschen Frauen“, scherzt er. Bilowski winkt ab. Jamal scheint hier wirklich jede:n auf der Straße zu kennen. Eigentlich ist er gelernter Dachdecker, inzwischen hilft er anderen bei der Jobsuche, bei Behördengängen. „Viele kommen auf die Eisenbahnstraße und denken, hier sind die schlimmsten Leute der Welt.“ Er müsse sich immer stärker anstrengen, um anerkannt zu werden, erzählt er. Und von Deutschen, die anfangen zu flüstern, wenn eine Frau mit Kopftuch in den Bus einsteigt. „Denen habe ich erstmal meine Meinung gesagt“, sagt er. „Ich sag bei sowas nichts mehr“, antwortet Ibo leise. Er hat resigniert.

Ibo und Bilowski sitzen vor dem „Goldhorn“ | Foto: Clarissa Hofmann


Eisenbahnstraße 106

Sarah hat vier Jahre lang an der Eisenbahnstraße gewohnt, über einem Friseursalon am östlichen Ende der Straße. Wenn man die Straße von der Innenstadt aus entlangläuft, wird sie immer ruhiger, sagt Sarah. Veränderung findet eher im westlichen Teil der Straße statt. Dort gibt es jetzt einen Plattenladen, der auch ein Café ist. Er sticht zwischen den ganzen Imbissen und Supermärkten heraus. Ähnlich wie das Goldhorn, vor dem Ibo und Bilowski saßen, oder das Bistro „Kulturapotheke“, direkt nebenan. „Diese Orte sind ein bisschen wie Fremdkörper, weil hier keine Durchmischung stattfindet“, sagt Sarah. „Sie werden angenommen, aber nur von Deutschen.“ Generell wird die Straße hipper, findet sie. Immer mehr Studierende ziehen her. Der Ruf der Straße, die vermeintliche Kriminalität, die Armut haben für viele Kultstatus. Gleichzeitig gibt es hier mitunter die günstigsten Mieten in Leipzig. Alle paar Tage findet auf verschiedenen Plätzen ein Wochenmarkt statt. Es ist immer etwas los. „Für die Leute, die hier zehn bis zwanzig Jahre gelebt haben, ist diese Gentrifizierung natürlich befremdlich“, sagt Sarah. Vor anderthalb Jahren ist sie von der Eisenbahnstraße in den Stadtteil Reudnitz gezogen. Auf dem alten Klingelschild erkennt sie nicht einen der Namen wieder. Ein Ort zum Bleiben ist die Straße für die meisten Studierenden nicht.

Sarah hat vier Jahre auf der Eisenbahnstraße gewohnt | Foto: Clarissa Hofmann


Konradstraße 55

Manuel und Johannes treffe ich vor dem „Bistro Syrien“. Manuel erkenne ich als Inhaber des Ateliers Bistro 21 wieder, vor ein paar Jahren war er wegen der Eröffnung in der Lokalzeitung. Die beiden brechen gerade ins Café Dingdong auf und nehmen mich einfach mit. Bunte Stühle unter hohen Linden, Johannes bestellt einen Kaffee 3000. Sieht aus wie ein Cappuccino auf Eis. Sieben Jahre lang hat Manuel das Bistro 21 geleitet und im selben Haus gelebt. Das Atelier ist in der Hermann-Liebmann-Straße, direkt um die Ecke. Genutzt wird es vor allem von Student:innen aus der Kunstszene. Die Eisenbahnstraße als gefährlichste Straße Deutschlands zu bezeichnen, sei vor allem politisch motiviert, finden sie. „Sachsen wird von der CDU regiert, der ist die Eisenbahnstraße ein Dorn im Auge“, sagt Manuel. Ähnliche Dynamiken zeigen sich in der Stadtentwicklung. „Für die Straße wirbt man mit internationalem Flair, trotzdem bleibt sie für Investoren unattraktiv“, sagt Johannes. Gentrifizierung findet eher in den Wohngebieten jenseits der Straße statt. „Das schützt die Straße, sie verändert sich nicht so schnell.” Andererseits wird die Straße so auch nicht so schnell ihr schlechtes Image loswerden.

Manuel hat sieben Jahre lang einen Kunstraum in der Nähe der Eisenbahnstraße geleitet | Foto: Clarissa Hofmann


Eisenbahnstraße 109

Auf Höhe der Idastraße sticht ein Laden heraus. Mit bunten, abgeblätterten Buchstaben steht „Verschenkekiste“ über dem Schaufenster. Die Ladenzeile ist mit bunten Graffitis besprayt. Auf dem linken Schaufenster neben der Tür kleben zahlreiche Plakate, für eine Ausstellung der Hochschule für Grafik und Buchkunst zum Beispiel, aber auch für Konzerte und Partys in Leipzig. Das andere Schaufenster ist mit brauner Pappe abgeklebt worden, weil es vor ein paar Tagen eingeschlagen wurde. Vor dem Geschäft ist eine Kleiderstange aufgebaut mit bunten Kleidern und bunten Kleiderhaken. In der Verschenkekiste werden Dinge verschenkt, getauscht oder gespendet: Bücher, Kinderspielzeug, Kleidung, CDs, Dekoartikel oder Haushaltsgegenstände. Diejenigen, die hier arbeiten, tun das ehrenamtlich. Den Laden gibt es seit einem Jahr. Doch das Konzept erlaubt es kaum, lange an einem Ort zu bleiben. Steigen die Mieten, muss weitergezogen werden. Die Straße hier war nicht die erste Wahl. Vorstandsmitglied Anja hat schon einige Umzüge erlebt „Am Anfang hatte ich Angst, hierherzukommen. Wenn man liest, was so alles über die Straße geschrieben wird, hat man ein konkretes Bild vor Augen“, sagt sie. Vor Ort sei die Angst schnell verflogen. Inzwischen kommt Anja auch mit ihren Kindern hierher. Einmal sei ein Böller in den Laden geflogen und vergangenes Jahr wurde eingebrochen. „Das aber hätte woanders genauso passieren können.”

Die Verschenkekiste ist seit erst kurzem auf der Eisenbahnstraße. Mitarbeitende arbeiten hier ehrenamtlich | Foto: Marie Gruber


Eisenbahnstraße 115 B

Das „Bitte“ auf der Eisenbahnstraße ist ein arabisches Café. Inhaber Njam Aldin und sein Freund Mohammad sitzen draußen und trinken Chai. „Das ist die beste Straße in Leipzig“, sagt Mohammad. „Wir sind zufrieden hier, alles ist gut“. Mohammad und Njam Aldin kennen sich aus ihrer Heimat Syrien, dort waren sie Nachbarn. Und wie es das Schicksal will, sind sie es auch hier wieder – zumindest auf der Arbeit. Mohammad hat seinen Laden direkt gegenüber, ein Handyreparaturservice mit Zubehör. „Hier gibt es so viele arabische Geschäfte, das erinnert mich an meine Heimat“, sagt Njam Aldim. Der Streit und die Probleme, die es auf dieser Straße gibt, werden von Leuten mitgebracht, die noch nie auf der Eisenbahnstraße waren, finden beide. Mohammad vergleicht die Situation mit einem Buch. Die meisten Menschen schauen es sich nur von außen an, überfliegen vielleicht ein paar Seiten und denken, das reicht aus, um sich ein Bild von der Handlung machen zu können. „Das kann man aber erst, wenn man richtig anfängt zu lesen.“

Abgerissene Plakate behindern den Gehweg | Foto: Clarissa Hofmann


Eisenbahnstraße 125

Ein junger Mann sitzt im Supermarkt neben dem Box-Gym am Ende der Eisenbahnstraße. Einen Namen hat der Laden nicht, nur „Boxen“ steht in Großbuchstaben im Schaufenster. Der Mann sieht jung aus, ich frage mich, ob er volljährig ist. Trotzdem ist er heute für den Laden zuständig, schickt Mitarbeiter:innen ins Lager und nimmt Warensendungen an. Seit acht Jahren wohnt er an der Eisenbahnstraße. Ihn stört vor allem die Drogenkriminalität hier. „Vor allem an der Ecke bei Aldi ist immer viel Verkehr. Aber die Straße ist seit zwei Jahren sauberer geworden.“ Das liege vor allem daran, dass es seitdem mehr Polizeipräsenz gibt. Vor zwei Jahren wurde die Waffenverbotszone für unwirksam erklärt und bis die neue Polizeistation bezogen ist, fährt die Polizei hier Patrouille. Die meiste Zeit steht ein Auto gut sichtbar in der Straße oder fährt sie langsam rauf und runter. Sicherer fühlt er sich trotzdem nicht. „Hier gibt es andere Regeln“, sagt er. Er erzählt davon, dass die Polizeikontrollen meistens rassistischen Mustern folgten. Kontrolliert würden hauptsächlich migrantisierte Menschen. Er erzählt, dass die Polizei bei Durchsuchungen handgreiflicher werde als in anderen Stadtteilen. Durch den Ruf, den die Straße hat, würden Vorfälle hier stärker als woanders ins Gewicht fallen. Wie im April, als nach einem tödlichen Streit in einem Café, von Unbekannten ein Straßenschild mit Aufschrift „Str. der Islamisierung“ aufgehängt wurde. Er ist der Ansicht, beide Seiten schaukeln sich gegenseitig hoch. Die Kontrollen sorgen lediglich dafür, dass sich manche Menschen – vor allem solche mit Migrationsgeschichte - auf der Eisenbahnstraße ungerechter behandelt fühlten und gereizter reagierten als andere Bewohner. Das wiederum verstärke das Bild, das viele Außenstehende von dieser Straße hätten.

Seit Errichtung der Waffenverbotszone wird auf der Eisenbahnstraße immer wieder gegen Polizeigewalt aufgerufen | Foto: Clarissa Hofmann


Ende

Ich verlasse die Eisenbahnstraße etwas überstürzt, nicht mehr zu Fuß, sondern mit der Tram. Ganz geöffnet hat sich mir die Straße nicht, aber das muss sie auch nicht. Die Eisenbahnstraße merkt sofort, wer von außen kommt und wer nicht. Sie ist skeptisch und zurückhaltend. Begegnet man ihr aber mit Offenheit und Interesse, dann gibt sie sie zurück. Sie nimmt einen auf, wenn auch nur kurz.