Text von
Clémence Michels
E
s ist ein Garten aus Asphalt, in dem gefärbte Wände die Bäume und Blumen sind. In dieser Juliwoche wird Hektor von der Zinc Nite Crew (ZNC) gemeinsam mit seinem Kumpel Peter einen Tunnel des Westwerkgeländes in der Nähe der Karl-Heine-Straße im Stadtteil Plagwitz bemalen. Zusammen mit seinem Hund Lotta, der immer mit dabei ist, bereitet Hektor sein Wandbild vor, das aus einem „Chary“ – also einer Figur – Vögeln und Grünzeug bestehen soll, alles in einem chaotischen, aber prägnanten Stil: „Heute ist die Natur mein Thema. Ich habe eine Skizze, die ich mir am Anfang anschaue, dann aber mache ich vor allem im Freestyle weiter und denke dabei nicht allzu viel nach“, beschreibt er sein Vorgehen. Im Laufe dieser Arbeitswoche werden Hektors Gedanken immer wieder zu seiner eigenen Geschichte und zur Vergangenheit und den Entwicklungen in Plagwitz zurückkehren.
Hektor zeichnet den ersten Entwurf für sein Wandkunstwerk. Mit nur einem Strich malt er einen perfekten Kreis. Hektor, das ist sein „Tag“, sein Künstlername. Er wurde 1984 in Leipzig geboren. Seine Mutter stammt aus Spanien, der Vater aus Holland. Aufgewachsen ist Hektor in den Reudnitz-Blöcken neben dem Bahnhofsviertel: „Mit 14 habe ich mit Graffiti angefangen. In den Blöcken gab es Leute, die ab und zu im Hinterhof sprühten. Ich wollte genau das Gleiche machen. Also habe ich eines Tages ein paar Farbdosen geklaut und diese großen Buchstaben kopiert. Es war nicht top, aber ich habe das Gefühl geliebt“, sagt er rückblickend. Er habe dann gemeinsam mit ein paar Kumpels seine erste Crew gegründet und sei von Jahr zu Jahr besser geworden: „Früher haben mir die Leute beim Sprayen über die Schulter geschaut, um Tipps zu geben, was ich besser machen kann. Heute male ich gemeinsam mit denselben Leuten, das ist faszinierend für mich!“ Hektor sieht sich selbst als „einfachen Typ“, wie er sagt. „Man muss aufpassen, dass man in dieser Szene mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Ich bin nicht besser als andere. Auch ist es egal, wie du malst. Es geht darum, den Moment zu leben, Zeit mit den Leuten zu verbringen, zu grillen, Bier zu trinken, zu lachen.”
„Faschismus und Drogen grassierten in dem Viertel“
Max, der Haustechniker des Geländes, schaut vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Er lebt seit zwölf Jahren in Plagwitz und sagt, dass Hektor manchmal „sehr schöne Bilder“ male, dann aber ein paar Tage später alles wieder abdecke, um etwas anderes zu machen, weil er unzufrieden sei. Hektor erzählt, dass er schon als Kind viel Zeit in Plagwitz verbracht habe. Er habe eine Mittelschule in der Gegend besucht und sei dann vor zehn oder zwölf Jahren hierhergezogen.
Plagwitz ist auch als „das Künstlerviertel“ in Leipzig bekannt. Der Stadtteil wurde ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem durch die Industrie geprägt. Zu DDR-Zeiten sei die Gegend vernachlässigt worden, sagt Leipzigs Umweltbürgermeister Heiko Rosenthal (Die Linke). Laut offiziellen Erhebungen des Statistischen Bundesamts ist die Bevölkerung in Leipzig nach der Wende zunächst stark geschrumpft. Die Stadt hatte Schwierigkeiten, sich von der Wiedervereinigung zu erholen: „Wir mussten alles neu machen; keine Trabis mehr, aber es gab neue Autoradios, und dann kam das Heroin, und auch Ecstasy ...", berichtet Hektor. Faschismus und Drogen hätten in den Neunzigern im Viertel grassiert.
Versöhnung zwischen den verschiedenen Stadtteilen von Leipzig
Während Hectors Wandbild langsam Gestalt annimmt, malt Peter auf der anderen Seite des Tunnels. Vor 13 Jahren fand der Maler zufällig einen Raum für seine bildende Kunst auf dem Westwerkgelände: „Damals war dieser Ort sehr unordentlich, überall lag Müll herum und es gab keine Tür, die man abschließen konnte. Es existierten nur ein oder zwei Geschäfte in der Gegend, das war's... Das hatte seinen Charme, aber heute ist es viel sauberer.“ Das Westwerk – ein altes Industriegelände aus dem 19. Jahrhundert – wird seit 2007 für kulturelle und künstlerische Zwecke umgestaltet. „Heute gibt es auf dem Gelände Geschäfte, Cafés und Spätis, die um vier oder fünf Uhr morgens schließen”, sagt Hektor. Er hat hier zwar kein Atelier, aber seine eigene „Wall of Fame“, nur für sich.
„Anfangs haben Hektor und ich noch nicht in denselben Stadtteilen gesprüht,” erzählt Peter. Er hat Hektor 2017 auf das Gelände geholt: „Er hat einen ganz anderen Stil als ich, aber das schafft einen guten Kontrast.“ Trotz dieses Unterschieds gehören die beiden Maler zu einer Generation von Künstler:innen, die laut Peter gerade von den Älteren, die noch die DDR erlebt haben, als „exotisch“ wahrgenommen wird.
Jedes Mal, wenn jemand vorbeikommt, ertönt ein freundliches „Hallo“. „Die Atmosphäre hier ist familiär, jeder kennt jeden, das ist ein echter Kiez! Hier musst du nicht auf dein Outfit achten… Du kannst mit Sandalen und Socken oder im Anzug rausgehen, das ist den Leuten egal. Sie wissen, wer du bist“, sagt Hektor. Plagwitz mit seinen vielen antifaschistischen Parolen sei heute politisch eher links. „Ähnlich wie Connewitz, dort aber gibt es mehr Hardcore-Punks.“ Hektor macht eine Pause und fährt fort: Das Viertel sei auch ein Hort für Künstler und Sprayer. Früher sei die Graffitiszene in Connewitz und Plagwitz gegensätzlicher gewesen, aber man habe einander auf Partys und Festivals kennengelernt. Und schließlich zusammen gemalt, anstatt gegeneinander zu spielen. „Heute gibt es viel mehr Respekt zwischen den Crews aus diesen beiden Stadtteilen“, meint Hektor.
Gentrifizierung in Plagwitz
Johannes und Christian, zwei Anwohner, kommen vorbei, um Hektor und seine Wand zu besuchen. Die Drei haben sich vor mehr als zehn Jahren zufällig auf der Straße getroffen. „Es gibt jetzt Bars, Clubs, Raves... Hier ist immer was los“, sagt Johannes. „Die Szene verlagert sich. Früher war es schmutzig und dunkel. Nach und nach kamen immer mehr Künstler und junge Leute in das Viertel, und jetzt ziehen auch Besserverdienende hierher.“ Johannes bedauert, dass sich Leute, die „nichts mit Kunst oder dem Viertel zu tun haben“, im Viertel breitmachten. Christian hingegen sieht das gelassen: „Der Eigentümer des Geländes bemüht sich, den Ort so zu erhalten, wie er ursprünglich einmal war, und ich bin mir sicher, dass er nicht der Einzige ist, der sich dafür engagiert.“
Laut Bürgermeister Heiko Rosenthal hat sich das Viertel sehr dynamisch entwickelt, denn hier zu wohnen, sei im Gegensatz zu anderen Stadtteilen für viele noch bezahlbar: „Es ist ein junges, familiäres, studentisches Milieu, und Kunst und Kultur entwickeln sich hier neben Reparaturwerkstätten, neuen Cafés, neuen Arbeitsplätzen oder Wohnungen.“ Laut Anwohner Johannes wandert die Leipziger Subkultur von Stadtteil zu Stadtteil. „Wie in Connewitz wird sich die Gentrifizierung in den nächsten Jahren auch in Plagwitz fortsetzen. Ich denke, dass Reudnitz dann das nächste neue alternative Viertel sein wird, wahrscheinlich wird es dort ähnliche Entwicklungen geben wie hier.“
Was die Zukunft der Graffitiszene betrifft, stellt Hektor schon jetzt zwei Entwicklungen fest: „Auf der Seite der Vandalen werden die Graffiti immer schneller und schmutziger, weil es mehr Polizei und Kameras gibt. Auf der Seite der legalen Szene werden sie zunehmend akzeptiert. Ich denke, dass sich dieser Kontrast noch verschärfen wird, auch wenn illegale und legale Graffiti in dem Viertel weiterhin nebeneinander existieren werden.” Trotz fortschreitender Gentrifizierung im Viertel glaubt Hector fest daran, dass seine Kunst hier eine Zukunft hat. „Diese Kunstrichtung kam in den Achtzigerjahren nach Leipzig, was bedeutet, dass die ersten Generationen ihre Erfahrungen jetzt an neue Graffitikünstler weitergeben können.”
Vom Geruch frischer Farbe durchzogen, zeigt der Tunnel schließlich Hektors endgültiges Werk. Auf die Wand sprüht der Künstler nun noch die Namen der Freundinnen und Freunde, die ihn im Laufe dieser Woche besucht haben. Für Hektor sind die Leute aus der Graffiti-Szene in Plagwitz wie eine große Familie.