×

Politik

Ein Rat gegen die Stille

Das Nachtleben und die subkulturelle Szene leiden. Die Corona-Pandemie hat sich als Brandbeschleuniger für das Sterben der Clubs erwiesen. Dabei haben diese ohnehin schon genug mit der Gentrifizierung in Großstädten zu kämpfen. Leipzig geht neue Wege, um das Clubsterben aufzuhalten.


E s wummert, die Tür geht auf, der Sound wird klarer. Eine Mischung aus Nebel und Schweißgeruch schlägt einem entgegen. Es ist dunkel, nur vereinzelt finden Lichter ihren Weg durch die Menge. Der Raum ist gefüllt mit Menschen, sie bewegen sich zur Musik, manche haben die Augen geschlossen. Jede:r tanzt für sich, und doch tanzen alle gemeinsam. Ein Ort, an dem Zeit keine Rolle spielt, Probleme für einen Moment vergessen werden können. Es ist ein wertvoller Ort, gerade für junge Menschen. Orte wie diesen gibt es in jeder Stadt, aber es werden immer weniger.

Das Problem der Schließungen von Kulturstätten besteht nicht erst seit gestern. Laut dem Bundesverband der Hotels und Gaststätten (DEHOGA) hat sich die Anzahl der Clubs von 2014 bis 2021 halbiert. Keine andere Branche verzeichnet einen so massiven Rückgang. Gründe dafür gibt es viele: Verdrängung, geringe Besucherzahlen, Beschwerden, Fachkräftemangel. In einer rasant wachsenden Stadt wie Leipzig ist das besonders spürbar.

Das zeigte sich wieder mal Ende Mai. Der älteste Club Ostdeutschlands musste seine Pforten schließen. Mit einer 72-Stunden-Party verabschiedete sich die Distillery von ihrem Standort in der Leipziger Südvorstadt, danach wurde der Stecker gezogen. Die "Tille" musste den Interessen von Immobilien-Investoren weichen. Nur wenige Meter daneben prunkt bereits ein Neubau, der Anfang eines Wohnbauprojekts.

Distillery - Seitdem der Neubau fertig ist, sind die Türen des Clubs geschlossen | Foto: Jakob Müller

Um die Kulturszene zu unterstützen, gibt es hier seit zwei Jahren nicht nur einen sogenannten Nachtbeauftragten, sondern auch ein in Deutschland einzigartiges Gremium: den NachtRat. Dieser funktioniert bisher ehrenamtlich, wird aber ab August 2023 mit einer neu geschaffenen Koordinierungsstelle verstärkt. Doch ob das ausreicht, um das Clubsterben aufzuhalten, bleibt abzuwarten.

Einmal monatlich kommen im NachtRat zahlreiche Akteure zusammen, um das Nachtleben möglichst gut abzubilden. Vertreter:innen der Kulturvereine, Kollektive und Veranstaltungsstätten treffen sich mit denen des Kulturamts, der Polizeidirektion, der Wirtschaftsverbände sowie mit Präventionsgruppen wie den DrugScouts, der Initiative Awareness und der Aidshilfe. Der NachtRat bietet so die Möglichkeit, auf allen Ebenen über das Leipziger Nachtleben zu diskutieren und es zu verbessern. Dabei geht es nicht nur ums Clubsterben, sondern auch um andere essenzielle Fragen: Wie geht man mit Lärmbeschwerden um? Welche Maßnahmen sind sinnvoll in Bezug auf Drogenkonsum? Was fehlt den Clubs, um finanziell besser dazustehen?

Gegründet wurde der NachtRat auf Initiative von Kordula Kunert, damals Vorsitzende vom LiveKommbinat. Der Verein vertritt im NachtRat die Leipziger Clubs und Livemusik-Spielstätten, auch die Distillery. Eine Stärke des Rates sei der Austausch auf Augenhöhe. „Er bietet die Möglichkeit, offen und vertrauensvoll miteinander zu reden", wie Jörg Kosinski aus dem Vorstand des LiveKommbinats berichtet. Bei sensiblen Themen ermögliche dieses Vertrauen einen lösungsorientierten Dialog, zum Beispiel über den Umgang mit Gefahren, wie aktuell bei der Ecstasy-Pille 'Blue Punisher'. Dabei werde der Fokus mehr auf Aufklärung und Prävention gelegt, anstatt die Konsument:innen zu kriminalisieren.

„Nachtkultur ist viel mehr als Rave und Drogen“
- Nils Fischer, Leipzigs "Nachtbeauftragter"

Was die Verdrängung von Kulturstätten angeht, so hat der NachtRat auf Initiative des LiveKommbinats bei der Stadt durchgesetzt, dass ein Register, das so genannte Kulturkataster, erstellt wird. Ein wichtiger erster Schritt, denn dadurch werden neben längst etablierten auch subkulturelle Veranstaltungsorte (in die Stadtkarte mit aufgenommen. Dies schafft Sichtbarkeit und verhindert das Vergessenwerden beim Stadtplanungsamt. Das bestätigt auch Nils Fischer, Nachtbeauftragter der Stadt: "Wenn es damals diese Strukturen schon gegeben hätte, hätte die Schließung der Distillery womöglich verhindert werden können". Nils Fischer, Anfang 30, bildet seit September 2021 die Schnittstelle zwischen den Clubs und der städtischen Verwaltung.

Wir treffen uns in einem Kaffee in der Moritzbastei. Er trägt eine Cap und trinkt einen Cappuccino. Fischer wirkt entspannt, trotzdem wählt er seine Worte mit Bedacht: “Ich bin ja Mitarbeiter der Stadt”, sagt er öfter. Er erzählt, wie er 2015 neben seinem Studium begonnen hat, in der Stadt Halle im Kulturbereich zu arbeiten. Dort nahm er eine ähnliche Rolle ein, wie er sie heute in Leipzig hat. Zu den Aufgaben des Nachtbeauftragten zählt, zwischen der Stadt und den Kulturschaffenden zu vermitteln. Darunter fällt auch, Verständnis für die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite zu wecken. Sein Talent: Er spricht die Sprache der Verwaltung, aber auch die der Szene. Stadt und Polizei würden bisher oft nur eine Seite sehen: “Nachtkultur ist viel mehr als nur Rave und Drogen, Clubs sind ein sozialer Ort, ein Safe Space, der vielen Menschen persönliche Entfaltung ermöglicht, und dabei auch touristisch und wirtschaftlich attraktiv ist”, sagt Fischer. Gleichzeitig versucht er, Empathie bei den Veranstaltenden zu wecken: "Die Auflagen des Ordnungsamtes gibt es ja nicht aus reiner Boshaftigkeit - aber es ist notwendig, der Szene genau zu erklären, warum es zum Beispiel ein Sicherheitskonzept braucht". Allein für diesen Austausch und das gegenseitige Gespräch sei der NachtRat sehr wichtig.

„Es ist bei weitem nicht alles rosarot.“
- Nils Fischer, Leipzigs "Nachtbeauftragter"

Fischer nennt außer dem Kulturkataster und dessen Schutzwirkung noch andere Projekte, die ohne die kooperative Arbeit wohl nicht zustande gekommen wären. Zum Beispiel gibt es seit dem Frühjahr 2023 einen Awareness-Leitfaden, damit sich die Besucher:innen auf jeglichen Veranstaltungen wohl fühlen können und diese tatsächlich zu einem "Safe Space" werden. Darüber hinaus wurde vergangenes Jahr ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren für Veranstaltungen eingeführt, was für alle Beteiligten eine Erleichterung ist. Die Organisatoren müssen keinen Abbruch ihres Events befürchten, Anwohner:innen können sich darauf verlassen, dass der Geräuschpegel nur an einer begrenzten Anzahl von Tagen hoch ist, und für die Verwaltung sinkt der Arbeitsaufwand.

Noch sind sie anzusehen, die Graffitys auf der Fassade der Distillery. | Foto: Jakob Müller

Nach einer kurzen Pause fügt Nils Fischer hinzu: "Zur Lage der Clubs muss man aber sagen: Es ist bei weitem nicht alles rosarot. Auch wenn im Moment keine Schließung durch Verdrängung im Raum steht, viele sind in einer schwierigen Lage". Er nennt als Hauptprobleme den Arbeitskräftemangel und das Fehlen der jungen Menschen, die während Corona sozialisiert wurden und sich in dieser Zeit Aktivitäten abseits des Nachtlebens gesucht haben.

„Viel ist schon passiert, aber mehr und besser geht immer“
- Jörg Kosinski, LiveKommbinat Leipzig e.V.

Diese Ansicht teilt auch Kosinski. Er glaubt, dass der NachtRat allein nicht genüge, um das Clubsterben zu stoppen, dafür seien die externen Wirkkräfte zu groß. Damit meint Kosinski unter anderem den Immobilienmarkt und die Gesetzgebung auf Bundesebene. Trotzdem schätzt er das Gremium sehr: "Die Stadt nimmt zunehmend relevante Probleme wahr, viel ist schon passiert, aber mehr und besser geht immer". Beide begrüßen unabhängig voneinander die neue Koordinierungsstelle Nachtleben, die ab August ihre Arbeit aufnimmt. Sie ergänzt die bisher ehrenamtliche Arbeit des NachtRats und soll diesem sowie seinen Forderungen mehr Sichtbarkeit verschaffen. Fischer freut sich auf die Unterstützung, da das aktuelle Arbeitspensum schwer alleine zu bewältigen sei. Für Kosinski stärkt die Schaffung der Stelle die Perspektive der Kulturszene. Dennoch seien weitere Maßnahmen notwendig, um die Situation der Kultur- und Clubszene nachhaltig zu verbessern. Dazu gehören unter anderem die Anerkennung von Clubs als Kulturorte, eine integrative Stadtplanung mit garantierten Standorten für Kulturstätten und ein umfassenderes Verständnis der Clubs als wichtige kulturelle und wirtschaftliche Akteure.

Für die Distillery geht es übergangsweise an einem Standort im Südosten Leipzigs weiter, der von der Stadt organisiert wurde. Ab 2032 bekommt der Club dann seinen festen Platz im Gleisdreieck, einem Areal, das von der Leipziger Club- und Kulturstiftung gekauft wurde, um einen festen Kulturstandort zu gründen und zu sichern. Die Hoffnung besteht, dass mit den getroffenen Maßnahmen und der Unterstützung durch den NachtRat sowie durch die neue Koordinierungsstelle Nachtleben weitere Schließungen von Kulturstätten verhindert werden können. Und auch wenn der NachtRat nicht alle Probleme löst, ein solches Gremium könnte auch für andere Städte Vorbild sein.


Links