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Gesellschaft

Lebst du noch oder wohnst du schon?

In Leipzig wird viel für Obdachlose getan. Trotzdem ist die Herausforderung, Wohnungslosigkeit nach den Plänen der Bundesregierung deutschlandweit zu überwinden, eine gewaltige.


H ast du Kleingeld? Und `ne Kippe?“ Eric liest den Spruch, der die Rückseite seiner mit Aufnähern bestickten Kutte ziert, mit einem Lächeln auf den Lippen vor. „Mir war es zu blöd, die Leute immer mit denselben zwei Fragen anzuquatschen, deswegen hab ich sie mir irgendwann auf die Kutte geschrieben“, erzählt er. Die Kutte passt zu Eric, sie scheint mit ihm verwachsen zu sein. Ein junger Mann, 22 Jahre alt, mit einem grünen Iro auf dem Kopf und kurz geschorenen Seiten. Eric, so erzählt er es gefasst, sei mit elf Jahren obdachlos geworden. Seit kurzem lebt er in seiner ersten eigenen Wohnung.

Die Notschlafstelle in der Torgauer-Straße 290 in Leipzig | Foto: Luisa Kretzschmar

Ambitionierte Ziele für 2030

Geht es nach den Plänen der Bundesregierung, sollen möglichst alle obdachlosen Menschen in Deutschland Erics Beispiel folgen. Der Nationale Aktionsplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit sieht vor, Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu beseitigen. Die Stadt Leipzig scheint das Problem auf den ersten Blick im Griff zu haben. Wer den Hauptbahnhof am Ausgang zur Westhalle in Richtung Stadtzentrum verlässt, findet kaum eine Spur von Bettelnden oder improvisierten Schlaflagern. Wer allerdings einen anderen, weniger frequentierten Ausgang auf der Westseite nutzt, wird schnell von der Realität eingeholt. Nur ein paar Schritte entfernt von der Bahnhofsmission hocken mehrere Menschen mit ihren Schnorrbechern auf dem Boden. Auf der benachbarten Bank lässt sich ihr Nachtlager erahnen: Ein Schlafsack lugt unter einer Plastiktüte hervor, daneben das, was man kaum als Habseligkeiten bezeichnen kann. Wie viele Menschen Leipzig bis 2030 in Wohnungen unterbringen müsste, lässt sich nur grob beziffern. Nach Angaben im Sozialreport der Stadt übernachteten im Jahr 2021 im Durchschnitt täglich 282 Personen in Notunterkünften. Hinzu kommt die Dunkelziffer derer, die tatsächlich auf der Straße schlafen oder anderweitig Unterschlupf finden. Damit die Ziele für 2030 nicht utopisch bleiben, müssen Konzepte her, die Obdachlosigkeit dauerhaft bekämpfen. 

Die zentrale Rolle spielt geeigneter und bezahlbarer Wohnraum. Doch bekanntlich mangelt es genau daran. In Leipzig verschärft sich die Situation besonders – die Stadt boomt und hat seit Jahren einen starken Einwohnerzuwachs zu verzeichnen, wie Zahlen des Amtes für Statistik belegen. Im Leipziger Stadtrat kennt man das Problem. Auf Anfrage erklärt die Linken-Abgeordnete Juliane Nagel, dass sich neben Obdachlosen auch Geflüchtete, Haftentlassene und Geringverdiener:innen auf dem Wohnungsmarkt behaupten müssten. Zwischen diesen Gruppen gebe es viel Konkurrenz. Wohnungslose hätten aufgrund ihrer ökonomischen Lage, möglicher Schufa-Einträge oder Berührungsängsten wenig Chancen, so Nagel. 

„Traumobdachlose” und die Menschenwürde

Tino Neufert kann das aus seinen eigenen Erfahrungen bestätigen. Seit 14 Jahren und mittlerweile als Projektleiter betreut der Streetworker bei der privaten Organisation „Safe Leipzig – Straßensozialarbeit für Erwachsene” Suchtkranke sowie obdachlose und wohnungslose Menschen. Der Großteil der Betroffenen seien Männer im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. „Es kann einiges dazu führen, dass Menschen in die Obdachlosigkeit rutschen”, sagt Neufert. „Mal nehmen sie Drogen, mal konsumieren sie Alkohol, mal haben sie Depressionen.” Aber selbst „Traumobdachlose”, die, wie Neufert erläutert, eine Ausbildung vorweisen können und weder Drogen noch Alkohol konsumieren, hätten es extrem schwer, eine Wohnung zu bekommen.

Zwar ist im Grundgesetz ein explizites Recht auf Wohnen nicht vorgesehen, allerdings gilt das Sozialstaatsprinzip aus Artikel 20. In Kombination mit der Menschenwürde aus Artikel 1 folgt daraus nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Auch ein Anspruch auf Unterkunft wird davon abgeleitet. Neufert erklärt das so: Wenn ein Betroffener nicht oder nicht mehr obdachlos sein will, muss ihm ein Schlafplatz gewährt werden – in welcher Form auch immer. 

Die Stadt Leipzig hat für diese Fälle Übernachtungshäuser eingerichtet. Es gibt Anlaufstellen nur für Männer, eine Unterkunft für Frauen und die sogenannten Alternativen: Notunterbringungen für drogenabhängige Personen. Gegen fünf Euro Gebühr können Obdachlose in diesen Einrichtungen die Nacht verbringen.

Beide bei „Safe Leipzig“ engagiert: Sozialarbeiter Tino Neufert und Peer Eric | Foto: Luisa Kretzschmar

Letzte Option: Torgauer Straße 290

Die eigentliche Hauptanlaufstelle für wohnungslose Männer ist wegen Sanierungsarbeiten vorübergehend geschlossen. Betroffene können stattdessen in einer Notschlafstelle in der Torgauer Straße 290 unterkommen. Wer sich der Einrichtung nähert, kommt zunächst an einem belebten Plattenbau vorbei und betritt dann eine andere Welt. Während die Stimmen tobender Kinder im Hintergrund verblassen, kommen mehrere blaue Container zum Vorschein. Die provisorische Unterkunft sollte ursprünglich Flüchtlinge beherbergen. Am Zaun, der das Gelände abschirmt, patrouillieren zwei Security-Männer. Zugang gibt es nur über eine Klingel – mit einem Surren öffnet sich das elektronisch gesicherte Metalltor an der Pforte. Dort, in einem der Container, hinter einem kleinen Fenster sitzt Ralf Schier, pädagogischer Mitarbeiter in der Torgauer Straße. Er kümmert sich unter anderem um die Verwaltung der Einrichtung: „Unsere Unterkunft ist ein zentraler Anlaufpunkt. Wir haben Platz für über 100 Personen und verteilen Menschen auch weiter auf andere Häuser”, erklärt er. Die Unterkunft ist eine reine Notschlafstelle. Zwischen 8 und 16 Uhr müssen alle Bewohner das Gelände verlassen. Es wird schnell deutlich: Wer in einer dieser Unterkünfte Zuflucht sucht, hat als Alternative wirklich nur die Straße zur Wahl. Eine langfristige Lösung für Betroffene ist die Notschlafstelle nicht.

Nach genau diesen Lösungen auf Dauer suchen Tino Neufert und sein Team. Dabei helfe Neufert seine Stärke, strategisch zu denken und pragmatisch zu handeln. Er habe es sich zum Ziel gemacht, Projekte umzusetzen, die den Menschen nicht nur kurzfristig helfen, sagt er:

„Langfristige Hilfe ist unser Ansatz bei ‚Safe‘. Ich muss nicht Soziale Arbeit studiert haben, um jemandem ein Brötchen zu schmieren oder einen Tee zu bringen.”

Das Team von „Safe Leipzig” bietet Menschen, die sich überwiegend im öffentlichen Raum aufhalten und dort Benachteiligungen erleben, Beratung und Unterstützung an. Finanziert wird diese Arbeit, anders als in vielen Städten, zu 100 Prozent von der Stadt Leipzig. Die zwölf Mitarbeiter:innen sind in drei festen Gruppen unterwegs: Während das „Team Konsum” suchtkranken Menschen dabei hilft, ihren Alltag zu gestalten, und ihnen bei Suchtfragen zur Seite steht, ist das „Team Wohnen” dafür zuständig, Menschen in schwierigen oder ungeklärten Wohnsituationen zu helfen – beispielsweise beim Erledigen von Behördengängen. Außerdem sind täglich „Safe”-Mitarbeiter:innen mit einem Hilfebus im Stadtgebiet unterwegs.  Sie versorgen die Menschen, denen es an den nötigsten Dingen fehlt, mit Essen, Kleidung oder Schlafsäcken. Ein Ziel ist auch, Betroffene überhaupt in Kontakt mit den Streetworker:innen zu bringen und ihnen Schritt für Schritt weitere Hilfe anbieten zu können.

Der Hilfebus von „Safe Leipzig“ | Foto: Luisa Kretzschmar

Auf diese Weise ist auch Eric auf „Safe” aufmerksam geworden. Er war mit elf Jahren auf der Straße gelandet, weil seine – wie er sie nennt – „Erzeugerin” ihn misshandelt habe. Davon zeugen noch heute, zehn Jahre später, die Narben von ausgedrückten Zigarettenkippen an seinem Hals. Nachdem er vor die Tür gesetzt wurde, sei er bei Freunden untergekommen, habe in Notdiensten und Heimen gelebt. Doch immer wieder sei er abgehauen, irgendwann dann in Leipzig gelandet. Hinter dem Hauptbahnhof gab es lange Zeit einen Zeltplatz, dort habe er mit weiteren Obdachlosen „gewohnt”, so nennt er es. In der Bahnhofsmission besorgte er sich jeden Morgen seinen Kaffee. Auch mit Drogen kam er in Kontakt: „Als ich obdachlos wurde, habe ich irgendwann angefangen zu kiffen, um einschlafen zu können.” Mit 14 habe er zum ersten Mal zu wachhaltenden Drogen gegriffen. Jetzt ist er nach eigener Aussage seit anderthalb Jahren clean von Crystal Meth und engagiert sich selbst beim Streetwork-Programm von „Safe”. 

Dieses Engagement von sogenannten Peers ist für Neufert ein wichtiger Pfeiler der langfristigen Obdachlosenarbeit. Ehemalige Betroffene wie Eric könnten Menschen, die auf der Straße leben, eher auf Augenhöhe begegnen. Um diese wieder besser in die Gesellschaft eingliedern zu können, bieten die Peers eigene Sprechstunden an oder teilen ihre persönlichen Erfahrungen in Schulen. Die Peers werden durch solche Projekte zur Brücke zwischen Betroffenen, Streetworker:innen und der Gesellschaft und schaffen es damit, Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit obdachlosen Menschen zu sensibilisieren.

Ein kleiner Schritt: „Housing First”

In Leipzig testet die Stadt seit Anfang Juli 2021 das Modellprojekt „Eigene Wohnung” im Rahmen des sogenannten „Housing First”-Ansatzes. Die Idee dafür stammt ursprünglich aus den USA: Ziel ist es, Obdachlosen schnell und unbürokratisch eine Wohnung mit passender Betreuung zur Verfügung zu stellen. Erreicht werden sollen vor allem diejenigen Menschen, zu denen Hilfsangebote bisher nicht durchgedrungen sind. Die Probezeit für das Projekt läuft bis Ende Dezember 2024. Insgesamt 25 Plätze standen zur Verfügung, die Teilnehmenden mussten sich bewerben und wurden letztlich ausgelost. Das Zwischenfazit der Stadt: ein Erfolg – zumindest für die 25 Menschen, die im Rahmen des Projekts eine Wohnung erhalten haben. Auch Neufert sieht darin einen Schritt in die richtige Richtung – 25 Plätze seien aber bei Weitem nicht ausreichend. Immerhin: Die Stadtratsabgeordnete Juliane Nagel bestätigt, dass das Projekt ausgeweitet und die Wohnungen verdoppelt werden sollen. 

Auch Eric hatte sich für einen Platz im „Housing First”-Projekt beworben. Damals wurde er nicht ausgelost, dennoch wohnt er nun – auch dank der Hilfe von Tino Neufert und „Safe” – statt in einem Zelt in seinen eigenen vier Wänden. Ganz loslassen kann er sein altes Leben aber noch nicht. Mit seinem Schnorrbecher ist er noch ab und zu unterwegs, auch den Kontakt zu alten Bekannten aus der Obdachlosenszene pflegt er weiter. So auch jetzt: Eric zieht seine Kutte wieder an und macht sich auf den Weg zur Bahnhofsmission, um dort nach dem Rechten zu sehen.

Definition Wohnungs- und Obdachlosigkeit

nach der Diakonie Deutschland

Als wohnungslos werden alle Menschen bezeichnet, die über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum verfügen, obdachlos sind, vorübergehend bei Verwandten oder Bekannten untergekommen sind, in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege oder in kommunalen Einrichtungen leben.

Als obdachlos werden Menschen bezeichnet, die im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten oder über die jeweiligen Ländergesetze der Sicherheit und Ordnung vorübergehend untergebracht sind.

Mehr Infos zum nationalen Aktionsplan der Bundesregierung gibt es hier