Text von
Thore Rausch
W enn das Leben, wie man sagt, mit der ersten Erinnerung anfängt, dann begann meins am 11. September 2001. Als die Welt auf den Fernsehbildschirm starrte, war ich dreieinhalb Jahre alt. New York versinkt in schwarzem Rauch. Die Bilder aus Amerika habe ich damals noch nicht verstanden. Meine Eltern waren sehr traurig. Die Schwere, dieses Gefühl, das habe ich verstanden. Die Erinnerung an die eigenen Umstände im Zuge eines aufwühlenden Ereignisses: "Blitzlichterinnerung" nennt man das. Vielleicht erinnere ich mich falsch. Sogar der damalige US-Präsident George W. Bush erzählte im Laufe der Jahre unterschiedliche Versionen des 11. Septembers.
Ausstellung in Leipzig: Ein Tag im September, der die Welt verändert | Foto: Lea Fiehler
Das Video werde ich erst Jahre später sehen. Wie zwei Passagierflugzeuge mit 800 Stundenkilometern in das World Trade Center stürzen. Die Bilder haben sich für immer in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Im Eingangsbereich des Leipziger Panometers ist es wieder da. Dieses kindliche Gefühl. Alle Fenster des Gebäudes sind abgedunkelt, die Decke des ehemaligen Gasometers ist so hoch, dass sie kaum zu erkennen ist. Aus Lautsprechern hallt ein dumpfes Brummen. Und da stehen sie dann: in goldene Farbe getaucht, 22 Meter hoch. Im Schatten der Türme ist die Luft schwer. Als könnte auch der Nachbau jeden Moment in sich zusammenfallen.
Ein Strich für jedes Leben
In fünf Installationen und einem 360-Grad-Panorama widmet sich der Künstler Yadegar Asisi “9/11, NY”, einem der prägendsten Ereignisse des 21. Jahrhunderts, und setzt gleich zu Beginn einen kritischen Punkt. Die goldenen Türme symbolisieren den unvorstellbaren Aufwand für den sogenannten “Krieg gegen den Terror”. Sechs Billionen Dollar. Eine halbe Million, jede Minute seit dem Anschlag. Der Krieg war sinnlos, weiß Asisi, weiß die ganze Welt. “9/11, NY” hat keine Antworten, erhebt stattdessen Anklage.
Die Vergeltungsschläge des Westens kosteten Hunderttausenden das Leben und zwangen weit mehr Menschen in die Flucht. Auf dem Boden der Ausstellungsräume verläuft eine endlose Strichliste. Für jedes verlorene Leben ein Strich. Und dennoch sind es die brennenden Türme, die die Erinnerung prägen.
Als wären wir angegriffen worden. Diese westliche Perspektive fordert Asisi heraus, seine Ausstellung erzählt rückwärts, startet in der Gegenwart. Wie sprechen wir über Krieg und Flucht? Neonfarbene Schlagzeilen durchziehen den Raum: “Asyltourismus”, “Messerstecher”, “Wir schaffen das”.
“Wir werden nie vergessen”: Die Namen der Todesopfer in New York am 11. September 2001 | Foto: Lea Fiehler
Gewalt und Gegengewalt
Die Titel der Ausstellung “9/11, NY” mag zunächst Sensation versprechen. Der britische Künstler Damian Hirst bezeichnete 2002 den 11. September im Guardian gar als “eine Art Kunstwerk für sich”. “Es war böse, aber sollte diese Wirkung erzielen." Asisi verweigert sich der bis heute ungebrochenen Faszination der Tat, zeigt die explodierenden Wolkenkratzer nicht ein einziges Mal.
Es ist bereits das vierte Antikriegsprojekt des Künstlers, dessen Vater 1953 beim Einmarsch westlicher Truppen in den Iran getötet wurde. Die Destabilisierung der Region förderte den Hass auf den Westen, der sich in den Anschlägen 2001 entlud. Dementsprechend ordnet Asisi das Weltgeschehen als eine Kette von Gewalt und Gegengewalt, ohne dabei die Verbrechen zu rechtfertigen.
Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wurde die Ausstellung um Anmerkungen ergänzt. Asisi lässt in kurzen Essays namhafte Persönlichkeiten zu Wort kommen. Die Qualität variiert. Der Regisseur Wim Wenders findet rührende Worte zu seinen Aufnahmen der Trümmer am Ground Zero, während die Theologin Margot Käßmann in einer flachen Gott-findet-Krieg-blöd-Erklärung die Niederlegung der Waffen in der Ukraine fordert und dabei vergisst, wer dort eigentlich wen überfällt.
Ein letzter Blick auf die Türme
Die Zeit läuft rückwärts im Panometer. 2015 / Fluchtbewegung. 2011 / Tod von Osama Bin Laden. 2003 / Irakkrieg. Schrifttafeln verkünden unangenehme Wahrheiten: Foltererfahrungen in amerikanischen Kriegsgefängnissen und das Leiden einer afghanischen Familie unter dem Taliban-Regime
2001 / In einem mit Asche bedeckten Wohnzimmer läuft auf einem kleinen Fernseher die Kriegserklärung von US-Präsident Bush. Eine fünfzehn Meter hohe Projektion strahlt Drohnenaufnahmen des zerstörten Afghanistans auf eine Leinwand hinter den Fernseher. Gewalt und Gegengewalt.
Und irgendwann ist man angekommen, in der Vergangenheit, im Herz des Panometers. 8:41 Uhr, 11. September 2001, New York. Die Stadt vibriert im morgendlichen Trubel, ein Moment, den es so nie wieder geben wird. 3500 Quadratmeter Bildfläche umfasst das 360° - Panorama, mehr als dreißig Meter hoch thront Manhattans Silhouette. Fünf Minuten später dröhnt ein Flugzeugmotor und das Licht geht aus. Die Zeit scheint still zu stehen, die Farbe im Raum verblasst. Die Blicke richten sich ein letztes Mal auf die Türme. Es folgt der Knall.
Panometer Leipzig
Richard-Lehmann-Straße 114
04275 Leipzig
“9/11, NY”
bis Frühjahr 2024
Täglich 10 - 17 Uhr