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utos rauschen über den Willy-Brandt-Platz, Fußgänger:innen überqueren geschäftig die Straße. Fahrräder flitzen vorüber, gelegentlich bimmelt sich eine Straßenbahn den Weg frei. Auf den ersten Blick lässt nichts darauf schließen, dass dieser Ort seit Monaten Anlass für heftige Auseinandersetzung ist. Ende April hatten sich in diesem Zwist die Fronten verschoben: Eine Partei musste die Hälfte ihres Territoriums abgeben.
Konkret heißt das: Wo Autos früher noch auf vier Spuren fahren durften, gibt es jetzt nur noch zwei für sie. Die verbleibenden beiden Spuren dienen nun jeweils den Taxis und Bussen zum Einfädeln und den Radfahrer:innen als Fahrradweg. Gekennzeichnet wurde der neue Radstreifen auf seinen 240 Metern Länge mit grünem Kaltplastik. Im Vergleich zu einer reinen Außenmarkierung soll die flächendeckende Farbe den Weg sichtbarer machen – und damit sicherer. Diese Veränderung scheint ein Meilenstein auf dem Weg zum Ziel zu sein, bis 2030 den motorisierten Individualverkehr in der Stadt auf 30 Prozent zu senken. Doch am Beispiel des Bahnhofsvorplatzes zeigt sich, dass bei der Verkehrswende auch die Kommunikation mit den Bürger:innen mitgedacht werden muss.
Die ehemaligen vier Autospuren sind auf zwei Spuren reduziert worden, dafür ist ein Fahrradstreifen und ein Einfädelungsstreifen hinzugekommen | Grafik: Finn Gessert
Kurzfristige Entscheidung: Viele fühlten sich überrumpelt
Schon seit Jahren steht die Raumordnung am Hauptbahnhof in der Kritik. Weil der Fahrradweg ursprünglich auf dem Bürgersteig angelegt war, kamen sich dort regelmäßig Fußgänger:innen und Fahrradfahrer:innen in die Quere. Das beklagte auch eine Petition zur „Neulösung des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs vor dem Hauptbahnhof” aus dem letzten Jahr. Im vergangenen Oktober schaltete sich dann auch noch der Stadtrat in die Diskussion ein.
Wirklich hitzig wurde die Debatte erst kurz vor Ostern, als Baubürgermeister Thomas Dienberg und der Amtsleiter des Verkehrs- und Tiefbauamts Michael Jana einschneidende Veränderungen ankündigten: Weniger Platz für Autos, mehr Platz für Fahrräder. Mit ihren Plänen stießen sie auf massive Kritik. Stadtrat, Wirtschaft und Zivilbevölkerung – sie alle fühlten sich von den eilig beschlossenen Umbaumaßnahmen überrumpelt.
“Keine Alleingänge am Leipziger Hauptbahnhof”
„Die Markierungsvorhaben am Hauptbahnhof haben mich überrascht. Ich fand die Herangehensweise des Stadtrats unprofessionell“, beschwert sich Andreas Ebinger, der in Wirklichkeit anders heißt. Im Internet tritt Ebinger mit seinem Klarnamen in Erscheinung – hier möchte er allerdings anonym bleiben. Er beschloss, seinen Unmut in einer Petition mit dem Titel „Keine Alleingänge am Leipziger Hauptbahnhof” zum Ausdruck zu bringen. Zunächst fanden sich nur einige wenige Unterstützer:innen für seine Unterschriftensammlung auf change.org. Nachdem aber die BILD-Zeitung die Markierungsarbeiten mehrfach thematisiert hatte („Bürgermeister malt Radweg auf Leipziger Ring“), nahm die Petition schließlich Fahrt auf. Inzwischen haben Ebingers Forderungen, die Bauarbeiten zu stoppen und die Stadtbevölkerung mehr einzubinden, auf change.org über 25.000 Unterstützer:innen. Doch Ebinger reichte seine Petition nie offiziell bei der Stadt ein; der Stadtrat ist daher nicht verpflichtet, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Es sind weniger die Markierungen, die Ebinger stören: „Die Sache ist nicht, dass die neue Aufteilung nicht funktionieren würde - sondern, dass es von Top-Down kam, also von oben herab. Nach dem Motto: Ihr werdet schon sehen, dass es geil ist.” Für Christoph Waack, den Radverkehrsbeauftragten der Stadt Leipzig, hat der Unmut einiger Bürger:innen einen anderen Grund: „Autofahrende haben eine gewisse Vorstellung davon, wie viel Freiheit und Raum ihnen zusteht.” Und den würden sie ungern mit anderen Verkersteilnehmer:innen teilen.
“Verkehrsplaner:innen bilden die Nachfrage auf verschiedene Verkehrsmittel im sogenannten Modal Split ab: Betrachtet werden dabei die zurückgelegten Kilometer und pro Tag unternommenen Wege.” | Modal Split 2018 | Grafiken: Henriette Busch, Stefanie Sommer
“Verkehrsplaner:innen bilden die Nachfrage auf verschiedene Verkehrsmittel im sogenannten Modal Split ab: Betrachtet werden dabei die zurückgelegten Kilometer und pro Tag unternommenen Wege.” | Modal Split 2030 | Grafiken: Henriette Busch, Stefanie Sommer
Mobilitätsstrategie 2030: Autofahrer:innen müssen verzichten
Robert Strehler, Vorsitzender des ADFC Leipzig, sieht das ähnlich: „Das Auto ist immer noch das dominierende Verkehrsmittel, Autofahrer:innen wurden jahrzehntelang bevorteilt”, sagt er. „Jetzt, da sie auf Platz verzichten müssen, fühlen sie sich benachteiligt.” Doch der Verzicht zu Lasten des Autos ist unvermeidbar – zumindest, wenn umweltfreundliche Verkehrsformen in Leipzig bessere Nutzungschancen bekommen sollen.
Das sollen sie, findet der Stadtrat: 2018 beschloss er die Leipziger Mobilitätsstrategie 2030, die ein besonderes Augenmerk auf umweltfreundlichen Verkehr legt. Demnach sollen am Ende des Jahrzehnts 23 Prozent aller Wege und Kilometer mit dem Rad zurückgelegt werden. Aktuell macht der Radverkehr laut der Stadt etwa 20,4 Prozent des Verkehrsaufkommens aus – immerhin eine Steigerung von etwa zwei Prozentpunkten im Vergleich zu 2018.
Luft nach oben bleibt trotzdem. Beim aktuellen Fahrradklimatest des ADFC schaffte es Leipzig unter den Städten mit über 500.000 Einwohner:innen zwar auf Platz vier. Dennoch gab es nur die Note drei minus, denn viele Radfahrer:innen äußerten Sicherheitsbedenken: Weniger als ein Drittel fühlt sich beim Fahrradfahren durch die Stadt sicher. Zukünftig reiche es deshalb nicht mehr aus, bestehende Fahrradstreifen grün zu markieren, erklärt der Radverkehrsbeauftragte Christoph Waack. „Es wird immer mehr darum gehen, anderen Verkehrsformen Flächen wegzunehmen, um Platz für Fahrradwege zu schaffen.”
Aufgestaute Emotionen: Da hilft nur transparente Kommunikation
Damit sich Menschen wie Andreas Ebinger nicht benachteiligt fühlen, ist nicht nur die Mobilitätsstrategie selbst entscheidend, sondern laut Robert Strehler auch eine gelungene Kommunikationsstrategie. Wie schwierig das ist, zeigen manche Kommentare unter Andreas Eibingers Petition. Eine Unterzeichnerin schreibt: „Ich verstehe es nicht, wie Autofahrer in dieser Stadt ausgebremst werden. Staus künstlich herbeizuführen, kann nicht umweltfreundlich sein.”
Doch ist diese Beschwerde berechtigt? Laut Strehler ist sie das nicht: Das Umwidmen der zwei Spuren vor dem Hauptbahnhof habe bisher nicht zu mehr Staus geführt. Außerdem sei das Unfallrisiko am gesamten Leipziger Innenstadtring dank der dort hinzugekommenen Radwege sogar gesunken, sagt Waack und verweist auf Daten der Polizei. Es bleibt abzuwarten, ob es jetzt auch am Willy-Brandt-Platz zu weniger Unfällen kommt. Laut Waack hatte es dort in drei Jahren mehr als 40 Unfälle gegeben, vor allem durch Spurwechsel.
Mehr Partizipation für Bürger:innen?
Für Andreas Ebinger war die Petition zumindest ein kleiner Erfolg: Zwar sind die Umbaumaßnahmen nicht gestoppt worden, wie ursprünglich verlangt. Trotzdem hat die Stadt aus seiner Aktion eine Lehre gezogen: Nun beschäftigt sich der Petitionsausschuss der Stadt noch einmal stärker mit der Möglichkeit, den Anliegen der Bürger:innen bei Entscheidungsprozessen mehr Gewicht zu verleihen.
Während die Stadtgesellschaft die Mobilität von morgen aushandelt, geht das geschäftige Treiben am Hauptbahnhof weiter. Straßenbahnen fahren ab, Autos rollen vorbei. Einige Fahrradfahrer:innen nutzen den grün markierten Streifen bereits – andere radeln nach wie vor auf dem Bahnhofsvorplatz. Vielleicht können auch sie noch nicht ganz mit dem Tempo der Leipziger Verkehrswende mithalten.