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Tag X-Demo

Elf Stunden im Kessel

Es war einer der größten Polizeieinsätze der vergangenen Jahre in Deutschland - die Solidaritätsdemo für Lina E. am 3. Juni in Leipzig. 1.000 Menschen werden über elf Stunden lang von der Polizei eingekesselt. Diese spricht im Anschluss von einem „vorbildlichen Polizeieinsatz“. Doch daran bestehen begründete Zweifel. Von Florian Krempel, Marie Gruber und Thore Rausch.


I n dem Moment, in dem die Lage am 3. Juni eskaliert, steht Ole (Name geändert) friedlich auf dem Alexis-Schumann-Platz. Er und seine Freunde sind politisch engagiert, nehmen häufiger an Demos der linken Szene teil. Am 3. Juni tragen sie ein Banner, demonstrieren gegen die Verurteilung von Lina E. und die Einschränkung der Versammlungsfreiheit in Leipzig. Steine fliegen, der Rauch von Pyrotechnik vernebelt die Sicht. Von der anderen Seite rennen hunderte schwarz gekleideter Polizist:innen mit Schlagstöcken los, umkreisen die Demonstrant:innen. “Zurück, zurück!”, schreien sie Ole und seine Freunde an und treten ihm dabei in den Magen, berichtet er. Ole weicht zurück, bis es irgendwann nicht mehr geht. Bis sich Mensch an Mensch drückt und kein Platz mehr da ist. Die Polizist:innen hören nicht auf damit vorzurücken. Die Beamten tragen Quarzhandschuhe, die ihre Fäuste mit Sandfüllungen verstärken. Dann löst sich ein Polizist aus der Reihe und schlägt zu – zweimal mitten in Oles Gesicht - um ihn herum wird alles schwarz.

Der Moment der Eskalation: Demonstrierende schmeißen Steine und zünden Pyrotechnik. |Foto: Tom Richter

Am Abend des 3. Juni treiben dreitausend Polizist:innen knapp tausend Demonstrant:innen in der Leipziger Südvorstadt zusammen und umstellen sie stundenlang in einem sogenannten Polizeikessel. Viele werden so eng zusammenpfercht, dass sie sich nicht hinsetzen können. Es gibt keine Toiletten, das Trinkwasser ist knapp. Bei Temperaturen unter zehn Grad werden die Menschen die ganze Nacht festgehalten. Elf Stunden im Kessel. Der sächsische Innenminister wird später von einem „vorbildlichen Polizeieinsatz“ und dem “mildesten möglichen Mittel” sprechen. Unsere Recherchen legen nahe, dass an vielen Stellen ein grobes Fehlverhalten der Polizei vorgelegen haben könnte - sowohl beim Vorgehen während des Einsatzes als auch bei der Kommunikation. Eine Rekonstruktion der Ereignisse auf dem Alexis-Schumann-Platz in Leipzig.

Vor der Demo:

Auslöser für die angespannte Situation in Leipzig um den 3. Juni ist das Urteil im Fall Lina E: Einer vierköpfigen Gruppe um die 28-jährige Leipzigerin wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gebildet – und zwischen 2018 und 2020 sechs schwere Angriffe auf Rechtsextreme verübt zu haben. Die Bundesanwaltschaft forderte acht Jahre Haft, viele Mitglieder der linken Szene forderten unter dem Motto „Free Lina“ einen Freispruch. Das Urteil: Fünf Jahre und drei Monate – von denen Lina E. bereits zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft abgesessen hat. Nach Überzeugung des Gerichts seien Lina E. und ein gleichaltriger Mitangeklagter der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung schuldig, zwei weitere Angeklagte wegen deren Unterstützung. Lina E. und zwei der Mitangeklagten werden zudem der gefährlichen Körperverletzung für schuldig befunden, ein vierter Angeklagter der Beihilfe dazu.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten zwischen 2018 und 2020 an mehreren Überfällen auf tatsächliche und vermeintliche Neonazis in Wurzen, Leipzig und im thüringischen Eisenach beteiligt waren oder diese zumindest unterstützt hatten. Laut Anklage wurden dabei 13 Menschen verletzt, darunter zwei potenziell lebensbedrohlich.

Für die autonome linke Szene ist das Urteil ein Skandal. Bereits vor dem Urteilsspruch hatte sie angedroht, jedes Jahr Haft würde eine Million Euro an Sachschaden nach sich ziehen – für alle vier Angeklagten summiere sich das Urteil auf insgesamt 13 Haftjahre. Nach dem Urteil rufen sie deutschlandweit dazu auf, am 3. Juni nach Leipzig zu reisen. Man wolle Staat, Justiz und Polizei zeigen, was man davon halte, wenn “Genoss:innen drangsaliert und in Knäste gesteckt werden”, schreibt eine Antifa-Gruppe aus Leipzig. Die Polizei bereitet sich auf einen Großeinsatz vor.

Prekäre Sicherheitslage erwartet

Am Mittwoch, drei Tage vor der geplanten Tag X-Demo, erlässt die Stadt Leipzig eine Allgemeinverfügung. Demnach sind alle öffentlichen Versammlungen, die sich auf den Prozess um Lina E. beziehen, fristgerecht anzumelden. Sollte dies nicht geschehen, werde die Versammlung untersagt - ein schwerer Eingriff in die Versammlungsfreiheit.

Am Donnerstag geht die Stadt noch einen Schritt weiter: Sie verbietet die fristgerecht angemeldete Tag X-Demo. Grund dafür sei eine Gefahrenprognose der Polizei und eine Lageeinschätzung des Verfassungsschutzes, erklärt die Stadt. In linken Kreisen sei bundesweit mobilisiert und auch zu Gewalt aufgerufen worden, heißt es von der Polizei. Die Organisatoren klagen per Eilantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Demo-Verbot. Ohne Erfolg.

Während die Tag X-Demo verboten wird, darf eine andere stattfinden. Der Verein „Say it Loud“ um die Vereinsvorsitzende Irena Rudolph-Kokot und den Stadtrat der Grünen Jürgen Kasek meldet bereits vor dem Verbot der Tag X-Demo eine Demonstration unter dem Motto „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ an. Damit soll gegen die Allgemeinverfügung der Stadt Leipzig protestiert werden. „Wir hatten das Gefühl, es gab ein großes Bedürfnis in der Stadt zu demonstrieren. Das lässt sich durch ein Verbot nicht einfach unterdrücken“, erklärt Rudolph-Kokot. Die Demonstration findet am Samstagnachmittag statt.

Auf der Demo:

Unklare Kommunikation vor Ort

16:30 Uhr Auch Lenny nimmt am 3. Juni an der Demonstration teil. Seinen Namen haben wir geändert. Auch er ist in der linken Szene aktiv. Er und seine Freund:innen erreichen den Alexis-Schumann-Platz am Nachmittag. Ihm sei direkt aufgefallen, dass ziemlich viele Polizeikräfte vor Ort gewesen seien. Die Stimmung beschreibt er als „diffus“ - es hätten unterschiedliche Erwartungen bei verschiedenen Gruppen geherrscht: “Einige waren auf Eskalation vorbereitet, aber es waren auch viele Leute da, die einfach nur ein Radler getrunken und gekifft haben”, berichtet Lenny dem merk:würdig magazin.

17:00 Uhr Es werden mehrere Reden gehalten, unter anderem vom Versammlungsleiter Jürgen Kasek. Anschließend ist geplant, dass die Demo loslaufen soll. Laut Rudolph-Kokot ist eine feste Route über breite Straßen vorgesehen, doch die Polizei verbietet den Start der Demo. Zu viele Demoteilnehmer:innen seien vermummt, so die Begründung. Das Organisationsteam der Demo verhandeln mit der Versammlungsbehörde, schlagen vor, sich die Teilnehmer:innen versammeln und aufstellen zu lassen, um einen Überblick zu bekommen, doch die Polizei lehnt dies ab. Während die Verhandlungen noch laufen, verbreitet die Polizei die Durchsage, dass die Demo den Alexis-Schumann-Platz nicht verlassen darf. “Unser Eindruck ist, dass man nie vorhatte, die Demo überhaupt loslaufen zu lassen”, sagt die Organisatorin Rudolph-Kokot.

Rund 3000 Polizeibeamte aus zwölf Bundesländern sind im Einsatz. Sie umstellen die Demonstrierenden. Zwischen den Einheiten scheint es Kommunikationsprobleme zu geben: “Wer an eine Einheit aus Hessen geriet, dem wurde etwas anderes gesagt als denjenigen, die auf die Einheit aus NRW trafen, und die Einheit aus Bayern hat noch einmal andere Auskünfte erteilt”, erinnert sich Rudolph-Kokot. Etwas aber hätten viele Einheiten offenbar gemeinsam gehabt: “Sie gingen davon aus, dass sie eigentlich auf der verbotenen Tag X-Demo waren. Das muss ihnen irgendjemand so kommuniziert haben.”

Rund 3.000 Polizist:innen aus zwölf Bundesländern waren im Einsatz. | Foto: Tom Richter

Die Polizei Leipzig selbst widerspricht diesen Vorwürfen vehement: „Wir schließen aus, dass Einsatzkräfte die am 3. Juni durchgeführte Versammlung mit dem Thema „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ als die verbotene „TagX-Demo“ gewertet haben. In Einsatzbesprechungen, aber auch in der öffentlichen Berichterstattung wurde dies ausreichend thematisiert“, heißt es in einem schriftlichen Statement der Polizei Leipzig, welches uns vorliegt. Irena Rudolph-Kokot, die schon hunderte Demos begleitet hat, fasst ihre Sicht so zusammen: “So eine absurde und desaströse Kommunikation habe ich noch nie erlebt.”

Bereits zu Beginn der Demo wirft die Vorgehensweise der Stadt Leipzig sowie die der Polizei Fragen auf. Zuerst wird mit einer Allgemeinverfügung die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Eine rechtmäßig angemeldete Demonstration wird nach einer Gefahreneinschätzung dann verboten. Bei der Demo für Versammlungsfreiheit, die am Samstag stattfinden darf, scheint dann die Kommunikation innerhalb der Polizei und zwischen den Einheiten aus verschiedenen Bundesländern nicht so zu funktionieren, wie es für eine Deeskalation der Lage nötig gewesen wäre.

Indes holt die Polizei Leipzig eine richterliche Verfügung ein, rund 300 bis 400 Menschen in einem Kessel zu umstellen und um ihre Personalien festzustellen.

Die Situation eskaliert

17:30 Uhr Ein Teil von Lennys Freund:innen hat sich von der Gruppe getrennt, um am Kiosk Bier zu besorgen. Polizeikräfte fangen sie ab. Laut Demoteilnehmer:innen, mit denen wir gesprochen haben, sei es bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen, die Veranstaltung zu verlassen. Auch friedliche Demoteilnehmer:innen, die einer Eskalation aus dem Weg gehen wollen, können das Gelände nicht mehr verlassen. Das gesamte Perimeter um den Alexis-Schumann-Platz ist von der Polizei umstellt. Irena Rudolph-Kokot bestätigt das: “Es gab Menschen, die mit irgendwelchen Begründungen zwar noch herausgekommen sind, der Großteil aber nicht. Man hatte das Gefühl, dass ein ganzer Stadtteil abgeriegelt wurde.”

18:13 Uhr Kurz nach 18 Uhr gerät die Situation außer Kontrolle. Ein Teil der Demonstrant:innen, Augenzeugen sprechen von einer niedrigen zweistelligen Zahl, versucht, aus dem umstellten Areal auszubrechen. Es fliegen Steine, Böller explodieren - die Situation ist unübersichtlich.

Videoaufnahmen des Politmagazins Monitor zeigen, wie mehrere Hundertschaften auf die randalierenden Demonstrant:innen losstürmen. Die Polizei treibt knapp 1.000 Menschen in einem Kessel zusammen. Demoteilnehmer:innen sowie Organisator:innen berichten uns, dass auch viele friedliche Demonstrierende und Unbeteiligte, die sich im Park aufhielten, in dem Kessel zusammengetrieben wurden.

Irena Rudolph-Kokot sieht darin Polizeiversagen: “Genau deshalb hatten wir vorgeschlagen, die Demonstrierenden erst einmal Aufstellung nehmen zu lassen, um zu sehen, wer dazugehört. In dem Gebiet ist ein Spielplatz, der Vorplatz einer Schule und ein Park, in dem Leute chillen. Denen kann man nicht allen unterstellen, dass sie an der Demo teilnehmen wollten.”

Der richterliche Beschluss erlaubt der Polizei 300 bis 400 Personen einzukesseln. Nun werden knapp tausend Menschen festgehalten. Olaf Hoppe, der Pressesprecher der Polizei Leipzig, behauptet, man habe – trotz Hubschrauberübersicht – nicht gewusst, dass sich knapp dreimal so viele Menschen wie gedacht auf dem Alexis-Schumann-Platz aufhalten.

Schilderungen aus dem Kessel

Ab 18:20 Uhr Lenny, der ebenfalls eingekesselt wird, schildert uns, wie er die Situation erlebt hat: “Es war extrem belastend, die Polizei, so schien es, wollte die Lage so ungemütlich wie nur möglich machen. Sie hat die Leute immer weiter zusammengedrängt, damit sie keinen Platz haben. Mir kam es so vor, als würden ‘Spielchen’ gespielt. Man weiß, wenn sie die Visiere runterklappen, gehen sie vielleicht rein - und das haben sie immer wieder getan: Visier runter, gewartet, Visier hoch… einfach nur, um die Leute unter Druck zu halten, damit man sich keine Sekunde entspannen kann. Es war für mich wie eine Art Folter.”

Über elf Stunden kesselten Polizist:innen die Demonstrierenden ein. | Foto: Tom Richter

Sanitäre und gesundheitliche Probleme

Nicht nur die psychische Belastung macht den Eingekesselten zu schaffen. Der Polizei wird unter anderem von den Sanitäter:innen vor Ort vorgeworfen, im Kessel nicht für menschenwürdige Bedingungen gesorgt zu haben. Fast elf Stunden blieben ungefähr 1.000 Menschen im Kessel gefangen, ohne Toilette. Einen Toilettenwagen habe es, laut Angaben von Polizeipräsident René Demmler, zwar gegeben, allerdings, so berichten Augenzeugen, außerhalb des Kessels und so außer Reichweite der Eingekesselten.

Obwohl Sanitäter:innen vor Ort waren, wurde ihnen der Zugang zum Kessel lange verweigert. “Die Versorgungslage war sehr schwierig", erzählt Lenny. Ein paar Menschen waren mit Wasserflaschen und Energieriegeln ausgestattet, die Mehrheit jedoch nicht. “Der Kessel war viel zu eng für die Menge an Leuten, Menschen wurden an Bäume gedrückt. Direkt in meinem Umfeld hatten mehrere Menschen Panikattacken. Sie konnten medizinisch nicht versorgt werden, weil die Polizei keine Sanitäter:innen reingelassen hat”. Sanitäter:innen hatten laut Polizeipräsident Demmler die Erlaubnis zu intervenieren. Aufgrund mangelnder Kommunikation dauerte es jedoch mehrere Stunden, bevor sie Zutritt zum Kessel erlangten.

Minderjährige im Kessel

Im Kessel, von den Beamten „Umschließung“ genannt, werden nach Polizeiangaben 101 Jugendliche  und zwei Kinder (jeweils 13 Jahre alt)  festgehalten. Szenekundige Quellen sprechen von mindestens vier Kindern. Für diese gelten in einem Kessel besondere Regeln: Laut dem Jugend- und Sozialarbeiter Tobias Burdukat habe die Polizei bei Minderjährigen das Recht, eine Identitätsfeststellung durchzuführen: “Das heißt Name und Adresse festzustellen und ein Foto zu machen. Meinetwegen auch das Handy einzuziehen. Mehr geht aber nicht.” Bei elf Stunden im Kessel könne man nur schwer von einer Identitätsfeststellung sprechen, sondern müsse vielmehr von Freiheitsberaubung ausgehen, so Burdukat. Es hätten zwingend die Eltern der Minderjährigen kontaktiert werden müssen.

Ole, mit dessen Vater wir sprechen, ist einer der Jugendlichen im Kessel. Nachdem ein Polizist ihm am frühen Abend zweimal ins Gesicht geschlagen haben soll, wird er ohnmächtig. Als er bereits am Boden liegt, soll ihm ein weiterer Polizist gegen den Kopf getreten haben, so schildern es seine Freunde. Ein Arzt wird später keine Spuren von einem Tritt feststellen. Der bewusstlose Junge wird aus dem Kessel getragen. Sanitäter:innen bitten die Polizei, ihn schnellstmöglich in ein Krankenhaus zu bringen, doch die lehnt angeblich ab. Solange er nicht lebensgefährlich verletzt sei, müsse er hierbleiben, habe es geheißen. Über eineinhalb Stunden soll Ole nicht abtransportiert worden sein. Das sollen auch Videoaufnahmen belegen. Erst als Journalist:innen und Umstehende wiederholt intervenieren, lenkt die Polizei laut Augenzeugenberichten ein.

Als Ole im Krankenhaus angekommen ist, wird sein Vater informiert. Nicht von der Polizei, sondern vom Krankenhaus selbst. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma – von den beiden Schlägen in sein Gesicht. Als er am Zimmer seines Sohnes ankommt, warten davor zwei Polizisten, die seinen Sohn bewachen. “Es kam mir vor wie bei einem Schwerverbrecher. Die Polizisten begleiteten ihn zu jeder Untersuchung. Völlig absurd.”

Mehrere Minderjährige werden von der Polizei durchsucht. Ohne Einwilligung der Eltern hat die Polizei laut Tobias Burdukat aber nicht das Recht dazu. Eine Einwilligung soll in vielen Fällen gar nicht oder viel zu spät eingeholt worden sein. Auf dem Onlineauftritt des Aktionsnetzwerkes “Leipzig nimmt Platz” schildert eine 16-Jährige, dass sie sich auf der Polizeiwache vor zwei Polizistinnen bis auf die Unterhose ausziehen musste, um sich abtasten zu lassen. Dabei wird ihr, nach eigenen Angaben, auch in die Unterhose gefasst. Als sie anfängt zu weinen, darf sie sich wieder anziehen.

Man gehe nach derzeitigem Stand davon aus, dass alle Regeln für den Umgang mit Minderjährigen eingehalten worden seien, sagt Polizeisprecher Olaf Hoppe auf Anfrage von merk:würdig.

1:00 Uhr Nachts sinken die Temperaturen auf weniger als zehn Grad. Viele der Eingekesselten hätten gefroren, erzählen uns Beteiligte: Den Sanitäter:innen wurde lediglich gestattet, Rettungsdecken in den Kessel zu bringen. Die Polizei nimmt weiter Personalien auf. Spätestens jetzt stellt sich heraus: Die geschätzte Anzahl von 300 bis 400 Personen ist deutlich überschritten worden.

Die richterliche Verfügung gilt aber nur für diese Anzahl an Personen. Als der Fehler auffällt, wird der zuständige Richter jedoch nicht erneut kontaktiert, um eine aktuelle Bewertung vorzunehmen. Clemens Arzt, der an der Hochschule für Recht und Wirtschaft Berlin Polizeirecht lehrt, kritisiert dieses Vorgehen: “Dass eine richterliche Entscheidung nicht erneut eingeholt wurde, halte ich für nicht rechtmäßig.”

5:00 Uhr Nach elf Stunden werden die letzten Demonstrant:innen aus dem Kessel entlassen.

Schwerer Landfriedensbruch

Gegen fast alle Eingekesselten wird nun ermittelt. Damit stellt die Polizei 1.000 Menschen unter Generalverdacht. “Schwerer Landfriedensbruch” lautet der Vorwurf. Landfriedensbruch begehen in Deutschland diejenigen, die aus einer Gruppe heraus in “einer die öffentliche Sicherheit gefährdende Weise” an einer Gewalttätigkeit oder der Androhung einer Gewalttätigkeit mitwirken. Ein schwerer Fall von Landfriedensbruch liegt vor, wenn die Täter eine Waffe bei sich führen, bei der Tat jemanden schwer verletzen oder bedeutenden Schaden an fremdem Eigentum anrichten.

Kommt es zu einer Anzeige, erscheint diese im polizeilichen Führungszeugnis. Je nach Berufswunsch eine Katastrophe für viele Jugendliche. Die Polizei Leipzig hält ihr Vorgehen und die jetzt laufenden Ermittlungen weiterhin für rechtmäßig. Laut Polizeisprecher Olaf Hoppe sei es dabei unerheblich, dass die richterliche Verfügung ursprünglich für weniger Personen galt. Gegen alle Eingekesselten habe ein Anfangsverdacht bestanden, da der Angriff auf die Polizist:innen aus deren Gruppe heraus begangen worden sei. Bei der Rechtmäßigkeit beruft sich die Polizei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2016, nach dem ein Ermitteln gegen eine große Menschenmenge rechtmäßig ist.

Polizeirechtler Clemens Arzt hält das Vorgehen der Polizei trotzdem für unrechtmäßig. Er erklärt, warum die Ermittlungen dennoch weiterlaufen: “Nachdem die Polizei wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruch so viele Leute eingekesselt hat, ist sie bestrebt, ihre Saga, dass es gegen alle einen Anfangsverdacht gegeben habe, aufrecht zu erhalten.” Würde die Polizei im Nachhinein nicht gegen alle ermitteln, müsste sie eingestehen, dass die Maßnahme, einen Kessel zu bilden, überzogen war, so Arzt weiter.

Die Sicht der Polizei

Der oben beschriebene Handlungsablauf wurde uns so von mehreren Demoteilnehmer:innen, sowie Organisator:innen der Demo und weiteren Beteiligten geschildert - ihre Äußerungen decken sich weitgehend. Während unserer Recherchen kontaktieren wir auch die Polizei Leipzig und konfrontieren sie mit den Vorwürfen. Polizeisprecher Olaf Hoppe zeichnete daraufhin ein anderes Bild von den Geschehnissen am 3. Juni:

Kurz nach Veranstaltungsbeginn am 3. Juni sei klar geworden, so schildert Hoppe es, dass die ursprünglich von den Demoanmelder:innen geschätzte Personenzahl von etwa 100 weit überschritten gewesen sei und zwischen 1.800 und 2.000 Personen anwesend gewesen seien. Eine wachsende Anzahl an Demoteilnehmer:innen habe zudem begonnen, sich zu vermummen. Unserer Redaktion liegen mehrere Bilder der Demo vor. Darauf sind tatsächlich viele vermummte, aber auch viele Personen ohne Vermummung zu sehen. Die Polizei entscheidet daraufhin, die Demo nicht loslaufen zu lassen.

Die Stimmung schaukelte sich daraufhin immer weiter auf, bis die Situation um 18:06 Uhr schließlich eskaliert und einige Demonstrant:innen beginnen, Polizist:innen anzugreifen. Es fliegen Steine, und auch ein Molotow-Cocktail wird geworfen. Die Polizei versucht mit Lautsprecherdurchsagen die Situation zu beruhigen, doch um 18:13 Uhr folgt, begleitet von Steinewürfen, ein weiterer Ausbruchsversuch der Demonstrant:innen. Daraufhin bildet die Polizei einen Kessel um alle Anwesenden.

Immer wieder zünden linke Demonstrant:innen am 3. Juni in Leipzig Gegenstände an. | Foto: Tom Richter

Olaf Hoppe hält es für extrem unwahrscheinlich, dass sich zu diesem Zeitpunkt unbeteiligte Personen auf dem Platz aufgehalten haben, da man zuvor mehrfach dazu aufgefordert hatte, sich von den Straftätern zu entfernen. Uns liegen mehrere Zeugenaussagen vor, dass es aber gerade nicht möglich gewesen sei, auf Distanz zu gehen.

Nachbereitungen des Tag X: Polizei kündigt Ermittlungen an

Knapp einen Monat nach der Demo beginnt die Einschätzung der Polizei, es habe sich um einen “fehlerfreien Einsatz” gehandelt, langsam zu bröckeln. Sie kündigt “Handlungsbedarf” zum eigenen Vorgehen bei der Demo an.

Polizeipräsident René Demmler sieht den Einsatz weiterhin als rechtmäßig an, räumte aber ein: Es sei ein großes Problem gewesen, dass die Polizei die Anzahl der Menschen erheblich unterschätzt habe, die am 3. Juni viele Stunden lang in dem Kessel festgesetzt worden waren. Dass sich dort mehr als 1.000 statt wie angenommen 300 bis 400 Menschen aufgehalten hätten, sei lange nicht klar gewesen. „Wir haben es bis zuletzt nicht gewusst, bis der Letzte raus war“, sagte Demmler. Sonst hätte man lediglich eine verkürzte Identitätsfeststellung durchgeführt. Auch hätte die Kommunikation mit den Eingekesselten nur schlecht funktioniert.

In der MDR-Sendung “Fakt ist!” am 12. Juni berichtet der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU), dass bisher gegen keinen der Polizisten eine Strafanzeige eingegangen sei, was für die Vorgehensweise der Beamten spreche. Eine Aussage, die offenbar falsch ist. Der Vater von Ole, dem verletzten 16-Jährigen, erstattete direkt am Tag nach der Demo Anzeige gegen die Polizei, erzählt er dem merk:würdig magazin. Auch Polizeisprecher Olaf Hoppe bestätigt uns, dass mittlerweile mehrere Anzeigen gegen Polizist:innen vorlägen: Es würden 14 Strafanzeigen und elf Prüfvorgänge laufen.

Vermummter Staatsanwalt anwesend

Im Nachgang der Demo wird ein brisantes Foto öffentlich. Darauf zu sehen: zwei vermummte Personen, die sich mit mehreren Polizeibeamt:innen beraten. Später wird klar: Die darauf zu sehenden Personen sind ein Staatsanwalt und eine Kriminalbeamtin, die ihn bei der Demo unterstützen soll. Ein Polizeisprecher erklärt, dass die beiden über Maßnahmen für die laufende Demo entscheiden sollten. Die Vermummung sei eine persönliche Entscheidung zum eigenen Schutz gewesen. Demonstrationsleiter Jürgen Kasek bezeichnet das vermummte Auftreten des Staatsanwalts als “Problem”, da es den Eindruck wecke, die Justiz handele einseitig.

Unter den vermummten Demonstrant:innen, die Steine und Pyrotechnik warfen, sollen sich ebenfalls mehrere Zivilbeamt:innen befunden haben, wie Leipziger Polizeichef René Demmler im Innenausschusses des Sächsischen Landtags bestätigte. Sie hätten den Auftrag gehabt, Straftäter:innen auf der Demo zu “markieren”, um sie später wiederzuerkennen. Besonders brisant dabei ist, dass die Vermummung einiger Teilnehmer:innen als Hauptbegründung angeführt wurde, um das Loslaufen der Demonstrant:innen zu verbieten.

Auch aus der Politik kommen Reaktionen auf den Einsatz. Valentin Lippmann, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Sächsischen Landtag, kritisiert die Einkesselung der Demonstrant:innen als unverhältnismäßig. „Es ist davon auszugehen, dass sich eine große Zahl von Menschen im Kessel befand, die zu keiner Zeit tatverdächtig waren.” Man erwarte eine Aufarbeitung des Einsatzes, so Lippmann.

Anders fällt das Urteil der CDU aus. Sie spricht von einer „starken Leistung der Polizei“. „Versammlungsbehörde und Polizei haben bestmöglich dafür gesorgt, dass Leipzig am Tag X sicher blieb. Die ergriffenen Maßnahmen waren notwendig“, betonte CDU-Innenexperte Ronny Wähner im Sächsischen Landtag. „Dass die Polizei Personalien potenzieller Straftäter aufnimmt, erwarten wir von ihr.“

Was bleibt

Der 3. Juni in Leipzig wird als einer der größten Polizeieinsätze der vergangenen Jahre in Deutschland in die Geschichte ein. Eine rechtmäßig angemeldete Demo wurde zwei Tage vor Beginn verboten und die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Einer weiteren Demo wurde das Loslaufen durch die Polizei untersagt, obwohl sich die Veranstalter:innen noch mit der Versammlungsbehörde in Verhandlungen befanden. Als die Situation durch gewaltbereite Linke eskalierte, reagierte die Polizei brutal und kesselte unter prekären Bedingungen 1.000 Menschen, darunter viele Unbeteiligte, ein. Dabei ging sie nachweislich von einer falschen Personenzahl aus und agierte womöglich ohne richterliche Verfügung.

Die Kommunikation nach außen sowie unter den verschiedenen Polizeieinheiten scheint desaströs gewesen zu sein, auch wenn die Polizei dies bestreitet. Um ihre Geschichte des rechtmäßigen Kessels aufrechtzuerhalten, stellt die Polizei im Anschluss an die Demo alle Eingekesselten unter den Generalverdacht des schweren Landfriedensbruchs. Sie verteidigt ihr Vorgehen, kündigt aber umfassende Ermittlungen an. Polizeisprecher Olaf Hoppe spricht vom “intensivsten Nachbereitungsprozess seiner 25-jährigen Diensterfahrung.”

Der 16-jährige Ole, der von den Faustschlägen eines Polizisten verletzt wurde, leidet nach Angaben seines Vaters noch immer unter den Nachwirkungen. Die Kopfschmerzen und das Veilchen sind mittlerweile verschwunden. Geblieben aber seien die Albträume vom Kessel, die ihn derart stark belasten würden, dass er manchmal nicht zur Schule gehen könne.

Der Abend des 3. Juni lässt den 16-Jährigen nicht los - auch die Polizei und die Stadt Leipzig wird er noch lange beschäftigen.

Quellen

  • Interview mit Tobias Burdukat

  • Interview mit Rainer Totzke

  • Interview mit Irena Rudolph-Kokot

  • Statement der Polizei

  • Monitor-Magazin

  • Diverse Artikel der taz