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Kreativität

(Noch) Raum für Kunst?

Leipzig ist für seine Kunstszene bekannt. Was aber passiert, wenn Kunst und Stadt aneinandergeraten? Im besten Fall entstehen dann Orte wie das Leipziger Tapetenwerk. Ein Ort, der Raum für Kreativität schafft. Jetzt droht das Tapetenwerk von seinen eigenen Prinzipien eingeholt zu werden.


E lisabeth Howey holt nacheinander fürsorglich eingepackte Gegenstände aus einer Kiste hervor und positioniert sie auf dem Tisch. Sie sehen aus wie kleine Fabelwesen: mehrbeinig, irgendwie fließend, irgendwie weich. Eine der Figuren ist etwas massiger als die anderen. „Das ist der Dicke“, sagt Howey, „und da haben wir den Kecken“. Und tatsächlich sieht der Kecke keck aus, obwohl er weder Augen noch sonstige Merkmale hat, die sich als Mimik deuten ließen. Die dritte Figur ist eine Mischung aus beiden. „Bei ihm wusste ich nicht so wirklich, wie ich ihn nennen soll, deshalb habe ich bei den Kindern nachgefragt und die haben ihm den Namen Nils gegeben“. Der Dicke, der Kecke und Nils – zusammen ergeben sie die „Bande“, eines von Howeys Projekten.

Rote Backstein, Stahl, schwere Türen: Die alte Tapetenfabrik in Lindenau bietet jetzt Raum für Ateliers und Ausstellungen | Foto: Marie Gruber

In Howeys Atelier sind die Figuren noch ganz klein, gerade mal ein paar Zentimeter groß. Aber sie sind nur Prototypen. 25-mal größer stehen sie in Halle, auf einem Spielplatz. Dort kann man sich auf sie setzen, auf ihnen herumturnen oder entspannen. Vergangenes Jahr wurden die Figuren eingeweiht. „Ich mag alles, was kreucht und fleucht“, sagt sie. „Meine Figuren sind kreatürlich, eigenartig und ein bisschen surreal.“

Howeys Kunstraum ist Teil des Tapetenwerks, einer alten Tapetenfabrik in Leipzig, die revitalisiert wurde: für Künstler:innen und Architekturbüros, seit kurzem auch für Designer:innen und Coworking-Spaces. Ein Ort für Kreativität also, in dem neue Ideen entstehen und unterschiedliche Leute zusammenfinden, in einem großen kreativen Austausch. So zumindest die Idee. Das Konzept ist bekannt, in vielen Städten werden alte Fabrikgebäude saniert: die Kunstfabrik in Berlin, die Dosenfabrik in Hamburg, die LX-Factory in Lissabon. In Leipzig gibt es eine noch größere und bekanntere Anlage: die Baumwollspinnerei, nur 20 Minuten vom Tapetenwerk entfernt. Diese ehemaligen Fabrikgelände verbinden vor allem zwei Dinge miteinander: ein industriekulturelles Ambiente, das Kunstbegeisterte anlockt, und günstige Mieten, durch eine dezentrale Lage im Industriegebiet.

Das Tapetenwerk ist überschaubar. Vier Gebäude, drei Treppenhäuser, zwei Eingänge, ein Innenhof. Wenn sich etwas verändert, wird das sofort spürbar. Vielleicht sind an diesem Ort gerade deshalb die Veränderungen so greifbar, die in der deutschen Kunstwelt passieren. Die Wahrheit ist nämlich auch, dass es in der Innenstadt kaum Raum für Ateliers und Ausstellungen gibt. Und wenn es sie gibt, sind die Mieten so hoch, dass die wenigsten Künstler:innen sie sich leisten können. So werden Kunst und Künstler:innen immer weiter an den Rand gedrängt. In Leipzig ist das nicht anders, obwohl sich die Stadt mit ihrer Kunstszene rühmt. „Kaum eine Stadt investiert kontinuierlich pro Kopf mehr in Kunst und Kultur“, sagt Oberbürgermeister Burkhard Jung.

Ein Blick in Elisabeth Howeys Atelier zeigt ihre Arbeit mit verschiedenen Konsistenzen. Ganz wichtig ist der Handmixer mittig auf dem Holzregal | Foto: Marie Gruber


Eine Welt voller Fabelwesen

Elisabeth Howey war eine der ersten, die bei der Eröffnung des Tapetenwerks vor 17 Jahren einen Raum bekommen hat. Wie so viele Künstler:innen wirkt Howey so, als lebte sie in ihrer eigenen Welt. Spricht sie von dieser Welt, strahlt sie Leidenschaft aus. Kramt tausende Broschüren aus einer Schublade und zeigt ihre Projekte. Die Kunst bedeutet ihr alles. Sie ist in Künstler:innen-Kollektiven engagiert, auch ihren Mann hat sie im Rahmen ihrer Kunst kennengelernt und zum Tapetenwerk gebracht. 

Howey erschafft in ihrer Kunst oft Fabeltiere. Unter ihnen sind der Dicke, der Kecke und Nils – teil der „Bande“ | Foto: Marie Gruber

Howeys Atelier ist vollgestellt mit ihren Kreaturen. Mal sind sie rund und glatt, wie die Mitglieder der „Bande”, mal sind sie strukturiert, löchrig und aus ganz unterschiedlichen Materialien gefertigt. Sie posieren auf Holzpodesten, auf Möbelrollern oder hocken einfach auf dem Boden. Und ebenso wie die Figuren ist auch Howeys Atelier etwas eigenartig. Graue Wände und weißer Boden, Tische und Stühle wirken fast willkürlich darin platziert. Zwischen dem Durcheinander an Werkzeugen, Farbtuben und Pinseln thront ein Handmixer auf dem Ateliertisch. Der alte Mixer dient schon lange nicht mehr dem Backen, sondern vermischt für Howey die Konsistenzen, aus denen ihre Fabelwesen entstehen. Hin und wieder muss sich Howey von der Außenwelt abschotten, dann schließt sie die dicken Stahltüren zum Atelier. Am merk:würdigsten in diesem Raum aber sind die Dachfenster der ehemaligen Lagerhalle, durch die bei jeder Wetterlage reichlich Licht in das Atelier fließt. „Dieser Raum ist ein Traum“, schwärmt Howey.

Howey mit zwei originalgroßen Kreaturen. Normalerweise sind die Figuren in ihrem Atelier nur kleine Prototypen | Foto: Marie Gruber


Trocken, sicher, warm

Hört man Elisabeth Howey zu, dann ist das Tapetenwerk ein kleines Dorf. Das liegt auch daran, dass es hier so überschaubar ist. „Man läuft sich hier oft über den Weg, es gibt immer jemanden, der mir weiterhelfen oder etwas ausleihen kann“. Im Herzen des Tapetenwerks befindet sich das „Zwischenfisch“. Das kleine Café gibt es seit genau drei Jahren, die Besitzerin Anya scheint hier jede und jeden zu kennen. Anyas Café dient den Künstler:innen des Tapetenwerks auch als kleiner Ausstellungsraum. Heute aber hängen an den Wänden Gemälde einer externen Künstlerin. Um die Mittagszeit schwirren die „Einwohner:innen“ aus ihren Ateliers und Büros, besorgen sich in Lindas Kantine am Eingang des Tapetenwerks etwas zu Essen und versammeln sich getrennt oder zusammen an den Biertischen im Innenhof.

Hier spielt sich das Leben im Tapetenwerk ab: Ein Kleinkind, das vor einem der Ateliers auf einer Decke sitzt und mit Holzblöcken spielt. Die Programmierer:innen, die aus ihrem Büro einen Tisch herausschleppen und anfangen, Fleisch und Gemüse zu grillen. Anyas Partner und ihr Sohn, die kurz vor der Schließung des Cafés eine Kiste mit Küchenutensilien holen und sie in das Lager in einem der Gebäude bringen. Die Dorfgemeinschaft wird immer wieder durchbrochen, diesen Auswärtigen wird aber wenig Beachtung geschenkt. Die Tapetenwerker:innen sind an fremde Gesichter gewöhnt: Künstler:innen, die Räume für temporäre Ausstellungen mieten, Besucher:innen, die von den Ausstellungen Wind bekommen haben oder sogar jene, die extra für Lindas Kantine das Tapetenwerk besuchen.

Ginge es nach den Menschen, die hier arbeiten und wirken, würde sich die Dorfgemeinschaft nicht verändern. Aber wie in jedem Dorf kommen die Veränderungen meistens von außen. Und wie jedes Dorf muss sich auch das Tapetenwerk anpassen. „Es war lange so, dass man wirklich alle kannte und dann gab es irgendwann einen Punkt, an dem es anonymer wurde. An dem mir Leute entgegenkommen, die ich nicht mehr zuordnen kann“, erzählt Howey. Es wird enger im Tapetenwerk, die Wartelisten sind lang.

„Ehemalige Atelierhäuser, werden saniert und anschließend für den doppelten Preis angeboten. Das kann sich keiner leisten und sorgt dafür, dass der Arbeitsraum knapp wird“, erklärt Howey. Und von der Kunst allein kann sich auch das Tapetenwerk nicht über Wasser halten. Die Lösung sind Coworking-Spaces, für eine kreative Atmosphäre sorgen diese aber weniger. „Das sind alles sympathische Leute, aber natürlich verändert das die Atmosphäre. Du guckst in einen Raum und da stehen sechs Schreibtische und sechs Rechner. Du siehst gar nicht, was die Leute machen“.

Das Logo des Tapetenwerk erinnert an eine typische Tapete aus den Siebzigern | Foto: Marie Gruber


Wenn Kunst auf Stadt trifft

Wie Elisabeth Howey gehört auch der (Landschafts-)Architekt Michael Rudolph zu den ersten, die sich im Tapetenwerk einquartiert haben. Seine Firma „Station C23“ hatte ursprünglich Räumlichkeiten in einem anderen Stadtviertel. Dennoch entschloss sich Rudolph dazu, sich dem Tapetenwerk-Projekt anzuschließen. „Ich wurde für verrückt erklärt“, sagt er – und das zu recht: Die alte Fabrik war ziemlich renovierungsbedürftig und die Nachbarschaft „desaströs“, wie er beschreibt. „Trocken, sicher, warm“, so lautete 2007 das Motto des Tapetenwerks. Die Räumlichkeiten sollten funktionsfähig und bezahlbar sein. „Trocken, sicher, warm“ - das gilt auch heute noch, die Mieten wurden zwar erhöht, sind aber noch relativ bezahlbar. Seine Entscheidung vor 16 Jahren hat Michael Rudolph nicht bereut. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Stadt für das Tapetenwerk und seinen Stadtteil einsetzt. Leipzig wächst schnell, erklärt Rudolph, deshalb müssen Stadtteile urbanisiert werden. Dazu trägt das Tapetenwerk enorm bei. Strahlkraft, nennt er das, Gentrifizierung nennen das womöglich die Kunstschaffenden, die nichts Bezahlbares mehr in der Innenstadt finden. Sie werden nur selten von der Stadt gefördert.

Diese Entwicklungen, die sich zwischen Stadt und Kunstszene abspielen, zeigt das Tapetenwerk im Kleinformat. Wie ein Grundrauschen liegt die angespannte Situation um die Räumlichkeiten über den Ausstellungen, Ateliers und Büros. Und spricht man mit den Kunstschaffenden und Mitarbeiter:innen, wird dieses Rauschen immer lauter. Dadurch, dass die Kunst in die entlegeneren Stadtteile verdrängt wurde, ist das Tapetenwerk zwar überhaupt erst entstanden, aber was passiert, wenn die fortschreitende Urbanisierung das Tapetenwerk einholt? Elisabeth Howey muss um Atelier und Fabelwesen erstmal nicht bangen. Ihre Stahltür bleibt zumindest heute offen.

Die kargen Backsteinwände sind inzwischen mit Graffitis besprüht | Foto: Marie Gruber

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