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Gesellschaft

Im Schatten des Systems

Armut in Luxemburg ist ein oftmals übersehenes Problem. Da, wo das Sozialsystem versagt, versuchen Hilfsorganisationen, die Menschen aufzufangen. Im Tageszentrum „Stëmm vun der Stroos” in Luxemburg Stadt kostet ein warmes Mittagessen 50 Cent. 25 Cent kostet ein Getränk. Für manche ist das jedoch immer noch zu teuer.


S eit zweieinhalb Jahren leitet Charles Bechet den Standort von „Stëmm vun der Stroos”, auf Deutsch: „Stimmen von der Straße”, im Luxemburger Stadtteil Hollerich. Bechet ist von kleiner Statur. Er trägt ein hellblaues Shirt einer Surfer-Marke und eine kurze Cargo-Hose aus Jeansstoff, dazu Sneaker. Wegen seines roten Haars und seines mit Sommersprossen gesprenkelten Gesichts lässt sich sein Alter nur schwer ausmachen. Schalk blitzt aus seinen Augen, wenn er einen Witz macht. Selbst wenn er über ein schwieriges Thema wie Armut in einem so reichen Land wie Luxemburg spricht, wirkt er nicht bedrückt, sondern voller Tatendrang. Bechet ist ein Macher, der kein Wort zu viel verliert. Anstatt eines langen Vortrags gibt er lieber einen Rundgang durch die Einrichtung.

Die Menschen, die sie hier bei „Stëmm vun der Stroos” empfangen, stehen am Rand der Gesellschaft. In einem reichen Land wie Luxemburg ist Armut ein oft vergessenes, aber dennoch vorhandenes Problem. Seit 2003 steigt der Anteil der von Armut Gefährdeten stetig. 2020 lag er bei 20 Prozent, nur knapp unter dem EU-Durchschnitt von 22 Prozent. 2003 waren in Luxemburg nur 11,9 Prozent von Armut gefährdet. Zahlen, die in dem EU-Land mit den höchsten Mindestlöhnen auf den ersten Blick paradox anmuten. Einem Land, in dem der durchschnittliche Jahresbruttolohn im Jahr 2021 bei 65.000 Euro lag.

Charles Bechet leitet das „Stëmm“ in Hollerich" | Foto: Tabea Schröder

In den vergangenen Jahren waren Frauen noch deutlich stärker durch Armut gefährdet. Seit der Corona-Pandemie hat sich die Situation für Männern und Frauen angeglichen.

Besonders betroffen in Luxemburg sind junge Menschen. In der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren sind 20 Prozent von Armut gefährdet. Das liegt weit über dem europäischen Durchschnitt von etwa elf Prozent. Nur Rumänien weist innerhalb Europas einen höheren Wert auf.

Von Armut sind in Luxemburg auch Arbeitende betroffen. Die in-work-poverty-rate ist seit 2007 um mehr als drei Prozent gestiegen und lag 2019 bei 12,5 Prozent. Diesen Eindruck teilt Bechet. Er schätzt, dass arme Arbeitende 40 Prozent des Klientels von „Stëmm” ausmachen. Diese Menschen benötigen Lohnzulagen, um mit den hohen Lebenshaltungskosten in Luxemburg zurechtzukommen. Doch diese stehen nicht allen zu. Da in Luxemburg vor allem Ausländerinnen und Ausländer durch das staatliche Hilfe-Raster fallen, sind diese besonders oft auf die Hilfe von sozialen Projekten angewiesen.

„Stëmm vun der Stroos” ist dabei eines der größten in Luxemburg. Die Organisation wurde im Jahr 1996 gegründet. Die Gründungsidee war, eine Zeitung zu publizieren, die Obdachlose schreiben, um ihnen eine Stimme zu geben. Heute koordiniert die Organisation eine Vielzahl an Projekten an sechs Standorten im Land. Ziel ist es, benachteiligte Menschen wie Obdachlose, Prostituierte, Suchterkrankte, Geflüchtete oder Ex-Inhaftierte wieder in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu integrieren. Finanziert wird die Organisation vom Gesundheitsministerium, dem luxemburgischen Roten Kreuz und durch Spenden.

Der Standort Hollerich bietet ein Mittagessen zum kleinen Preis. Für besonders Bedürftige bezahlt die Caritas die Mahlzeit. Duschen, Wäsche waschen, Hygieneartikel, Kleiderspenden, medizinische und tierärztliche Versorgung, bürokratische Hilfe - alles ist kostenlos. „Außer das Essen”, führt Bechet aus. „Dafür verlangen wir einen kleinen Obolus, um zu verhindern, dass die Leute kommen, nicht aufessen und den Rest wegwerfen. Die Lebensmittel sollen wertgeschätzt werden.”

Wohnungsnot ist in Luxemburg ein großes Problem

Die Lebenshaltungs- und Wohnkosten in Luxemburg sind für viele der Betroffenen schlichtweg zu hoch, um eine realistische Chance auf ein komfortables Leben zu haben. Ein Zimmer ohne Badezimmer und Küche kostet hier schon mal 700 Euro im Monat. Zu den teuren Mieten kommt der Wohnungsmangel erschwerend dazu, berichtet Cristian Lopez. Er arbeitet in einer Einrichtung für von Armut betroffene Menschen bei der Caritas in Luxemburg Stadt.

„Viele Menschen kommen nach Luxemburg im Glauben, hier könne man schnell gutes Geld verdienen”, sagt Lopez.

Um einen festen Vertrag zu erhalten, brauche es jedoch einen festen Wohnsitz. Die Voraussetzung für einen Mietvertrag sei aber ein fester Job. So entstehe ein Kreislauf aus Hilfs- oder Schwarzarbeit und Wohnungslosigkeit. Je länger man jedoch das Eine oder das Andere sucht, desto geringer werden die Erfolgschancen.

Wer aus dem Ausland stammt und in Luxemburg weniger als fünf Jahre schulische oder berufliche Tätigkeit nachweisen kann, erhält keinen Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Für aus der EU Stammende kann die Frist unter bestimmten Umständen kürzer ausfallen. Wer nicht Teil des luxemburgischen Sozialsystems ist, hat es wegen der hohen Eintrittshürden schwer.

Eine staatliche Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit und Armut ist das luxemburgische REVIS (Revenu d’Inclusion Sociale), ein „Einkommen zur sozialen Eingliederung”. Jedoch muss auch hierfür eine fünfjährige Aktivität im Land nachgewiesen werden. Grundsätzlich ist es vergleichbar mit Hartz-IV in Deutschland. Das REVIS lässt sich in zwei finanzielle Teile gliedern: Die Eingliederungszulage erhalten Menschen ohne oder mit zu geringem Einkommen. Die Aktivierungszulage gibt es zusätzlich für die Personen, die an einer beruflichen Aktivierungsmaßnahme im Rahmen des REVIS teilnehmen. Berechtigt sind alle nach dem 25. Lebensjahr.

Im „Stëmm vun der Stroos” ist ein Großteil der Beschäftigten auf REVIS-Basis im Rahmen einer Aktivierungsmaßnahme eingestellt. Diese berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme soll ihnen dabei helfen, sich an einen strukturierten Alltag zu gewöhnen. Oft sind es Personen, die für einen längeren Zeitraum nicht gearbeitet haben, wegen einer psychischen Erkrankung, einer Suchterkrankung oder einer Inhaftierung, die jedoch als arbeitsfähig eingestuft werden. Ziel ist es, sie für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren, damit sie wieder autonom leben können. Bechet erzählt: „Bei den REVIS-Beschäftigten geht es nicht darum, die Menschen zur Arbeit zu zwingen, sondern sie sollen eine Beschäftigung finden, die ihnen Freude bereitet. Sie sollen gern herkommen und merken, dass sie in Gemeinschaft gut aufgehoben sind. Dass es besser ist als zuhause mit der Flasche in der Hand.”

Ein Großteil der Mitarbeitenden ist auf REVIS-Basis angestellt. | Foto: Tabea Schröder

Das Stigma der Armut ist schwer loszuwerden

Aus der Armut herauszukommen sei schwer, gerade wenn die Menschen krank seien. Bechet erzählt: „Das Problem mit Abhängigkeiten in Luxemburg ist, dass die Menschen sofort abgestempelt werden. Wir bei „Stëmm” konzentrieren uns auf die Lösung anstatt auf das Problem. Das kann bedeuten, jemanden daran zu gewöhnen, morgens aufzustehen, gesunde Gewohnheiten zu pflegen, sich Ziele zu setzen. Und umso mehr Raum dieser Sozialisierungsprozess einnimmt, umso weniger nimmt die Flasche ihn ein.”

Bechet ist froh, wenn die Menschen sich helfen lassen. Doch er weiß auch, wie weit der Weg zurück in ein eigenständiges Leben ist. „Das Musterbeispiel wäre: Ein Mensch ohne Sozialrechte kommt zu uns ins Projekt. Mit unserer Hilfe schafft er es, versichert zu werden und anschließend findet er zuerst eine REVIS-Anstellung, bevor er wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert wird. Doch der Weg dahin ist lang. Realistisch gesehen schaffen diesen Weg zehn Prozent unserer Klientinnen und Klienten”, sagt Bechet.

Ähnliche Erfahrungen hat auch Rita Lavina gemacht. Sie leitet die Volekskichen (deutsch: Volksküche). Hier gibt es für kleines Geld eine große Mahlzeit. Sieben Euro kostet ein Menü mit Salat, Suppe, Hauptspeise, Nachspeise und Kaffee.

In der Volekskichen arbeiten fast ausschließlich REVIS-Angestellte. Sie servieren das ganze Jahr über Essen. Auch an Sonn- und Feiertagen sind die Türen offen. Bewerberinnen und Bewerber werden über das Sozial-Ministerium an Lavina weitergeleitet. Doch die Beschäftigung auf REVIS-Basis bringt nicht nur Vorteile mit sich. „Die Leute, die wir bekommen, sind sehr schwach, haben große Defizite, was die Gesundheit betrifft. Bei vielen, die uns eigentlich für eine 40-Stunden-Woche empfohlen werden, müssen wir die Stunden reduzieren”, sagt Lavina. Dennoch unterstützt sie die Idee der beruflichen Wiedereingliederung: „Wir haben die Aufgabe, die Leute, die auf dem Arbeitsmarkt nicht eingestellt werden, hier zu beschäftigen.”

Trotz REVIS bleiben die Arbeitsbedingungen oft prekär

Es ist das große Problem am REVIS-System oder gar am luxemburgischen Sozialsystem: Die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und damit auch zurück in die Gesellschaft funktioniert zu oft nicht. Problematisch bei Anstellungen auf REVIS-Basis ist, dass die wenigsten in eine reguläre Beschäftigung übergehen. Sie hängen jahrelang fest in Ein-Jahres-Vereinbarungen, als Pendant zum Arbeitsvertrag, die jedoch weder eine Erhöhung von Gehalt noch von Urlaubstagen zulassen. Die REVIS-Aktivierungszulage, die eigentlich einen Ansporn bieten soll, zu arbeiten, fällt für viele zu gering aus, um eine 40-Stunden-Beschäftigung zu rechtfertigen.

Die Maßnahmen des luxemburgischen Sozialsystems sind ein guter Ansatz, funktionieren jedoch für zu wenige Menschen. Das Netzwerk aus Hilfsorganisationen arbeitet eng zusammen und fängt die Menschen in Notsituationen auf. Das genügt, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Für die tatsächliche Wiedereingliederung in die Gesellschaft braucht es jedoch noch mehr. Auch Charles Bechet von „Stëmm” wünscht sich langfristige Lösungen für Menschen, die von Armut betroffen sind:

„Es gibt keine Lösung nur für unsere Klientinnen und Klienten, sondern es benötigt eine Lösung, die allen hilft."

Blaues Licht in den Duschen soll den Drogenkonsum erschweren. | Foto: Tabea Schröder