Text von
Johanna Müller
Kein Blut, kein Herz, kein Gehirn. Einige von ihnen bestehen bis zu 99 Prozent aus Wasser. Manche sind nur wenige Zentimeter groß, andere werden bis zu 200 Kilogramm schwer.
Es mag an genau diesen so sonderbaren Eigenschaften liegen, dass Quallen bei vielen Menschen eine Abneigung hervorrufen. Diese Antipathie spiegelt sich auch in der Wissenschaft wider. Obwohl die ältesten fossilen Spuren von Quallen mehr als 580 Millionen Jahre zurückreichen, wurden sie lange mit Nichtbeachtung bestraft. Bis heute gilt: Viele Fragen bleiben offen, noch lange ist nicht alles erforscht.
Zwischen Kunst und Wissenschaft
Heute beschäftigen Quallen nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch Kunst- und Literaturschaffende wie Samuel Hamen. Obwohl auch er die Medusen mit schmerzhaften Erinnerungen verbindet.
Er kam mit 13 Jahren zum ersten Mal mit einer Qualle in Berührung. Im Korsika-Urlaub verletzte ihn eine Qualle so sehr, dass die Ferien gelaufen waren. Trotz dieser Erinnerung hat der Autor die Tiere in seinem Buch keineswegs als Monster porträtiert. Vielmehr entdämonisiert er die Tiere und bringt sie den Lesenden so ein Stück näher.
Quallen gibt dabei vor allem Einblicke in die Kulturgeschichte. Wer eine rein wissenschaftliche Lektüre erwartet, wird enttäuscht. Samuel Hamen geht weit in die Geschichte zurück, beleuchtet nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen, die seit Jahrhunderten versuchen, sie zu verstehen. So kommen im Buch Naturforscherinnen und Forscher des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zu Wort.
Im Wechsel mit Passagen über die Fischindustrie, die Qualle in Kunst und Literatur oder auch als Symbol queerer Bewegungen ist Quallen keine Aneinanderreihung wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern vielmehr eine asynchrone, teilweise unsystematische, aber dafür detailliert recherchierte Kulturgeschichte der Tiere. Gleichzeitig erzählt Samuel Hamen aber auch die Geschichte der Menschen, die schon seit Jahrtausenden mehr oder weniger erfolgreich versuchen, Quallen zu dokumentieren, zu konservieren und in Worte zu fassen.
Das liegt vor allem daran, dass sich Quallen jeglicher Determination entziehen. Samuel Hamen beschreibt sie einerseits als Schreckensbilder, Störfaktoren und Schmerzverursacher, die nicht „mit der Wimper zucken, sondern mit Tentakeln“. Gleichzeitig sind sie gestalterische Symbole des Art Déco, ein Symbol des Fortschritts und des Digitalen, eine Gratwanderung zwischen Kunst und Wissenschaft.
Diese zahlreichen Eigenschaften zeigen sich auch in den verschiedenen Namen, die den Quallen über die Jahre gegeben wurden: „Lungen des Meeres”, „Medusen” oder auch „Alien der Meere”.
Körper aus Glas & Glamour
Dabei sind Quallen viel zu ästhetisch, um einen solchen Beinamen zu verdienen. Da ist zum Beispiel die portugiesische Galeere, deren Tentakeln bis zu 50 Meter lang werden können und die im Englischen den Spitznamen Floating Terror trägt. Oder die Aequorea victoria, die mit ihrem Körper wie aus Glas und Glamour nicht nur nahezu transparent ist, sondern dank ihrer Biolumineszenz leuchtend durch die Dunkelheit des Meeres schwebt.
Wer es wagt, auf dem schmalen Grat zwischen Faszination und Ekel, zwischen Risiko und Glamour zu wandern und sich den Quallen so anzunähern, wird von Samuel Hamens Porträt fasziniert und überrascht und bekommt gleichermaßen Einblick in Vergangenheit und Zukunft der sonderbaren Tiere.
Über das Buch
Samuel Hamen: „Quallen. Ein Porträt“. Reihe „Naturkunden“ Herausgegeben von Judith Schalansky, mit Illustrationen unter anderem von Falk Nordmann Matthes & Seitz, 2022 143 Seiten, 20 Euro
Buchpremiere
mit Lesung & Gespräch: Samuel Hamen präsentiert Quallen am Freitag, den 26. August 2022 um 19:00 Uhr im Zabriskie Buchladen Berlin.
Über den Autor
Samuel Hamen, 1988 in Luxemburg-Stadt geboren, ist Schriftsteller und Literaturkritiker u. a. für Deutschlandfunk und ZEIT Online sowie Präsident des luxemburgischen Schriftstellerinnen- und Schriftsteller-Verbands A:LL. Sein erster Roman „V wéi wreckt, w wéi Vitess“ erschien 2018 bei Éditions Guy Binsfeld. Zuletzt wurde er mit dem Luxemburger Buchpreis 2020 sowie mit einem Jahresstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Der luxemburgische Autor Samuel Hamen.