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Portrait

Der ewige Jean

In der Heimat eine Ikone – international berüchtigt und geschätzt zugleich. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bleibt sich und der europäischen Idee auch nach fast 18 Jahren im Amt treu.


J ean Asselborn ist niemand, der schnell aufgibt. Seit über zwei Jahrzehnten radelt der 73-Jährige jedes Jahr über 1.300 Kilometer durch Frankreich. Der Luxemburger ist aber kein Rentner, der viel Zeit für ausgedehnte Radtouren hat. Er ist der dienstälteste Außenminister der EU und luxemburgischer Minister für Immigration und Asyl. Mit fast 18 Jahren im Amt überholte der LSAP-Politiker (LSAP = Luxemburger Sozialistische Arbeiterpartei) diesen Juli sogar den bisherigen Rekordhalter Hans-Dietrich Genscher. Die Jahre waren dabei keineswegs entspannt – Brexit, Flüchtlingsbewegungen und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Vor der Pandemie reiste Asselborn schon mal 250 Tage im Jahr durch die Welt. Wie er daneben noch Zeit und Energie zum Radfahren hat? „Wenn ich aus dem Flugzeug steige, dann gibt es zwei Möglichkeiten, entweder man legt sich ins Bett oder man steigt aufs Rad”, sagt Asselborn im Gespräch schulterzuckend.

Radfahren: Entspannung und Ideenquelle

Seine Radtouren helfen Asselborn abzuschalten – aber so ganz kommt er gedanklich auch dabei nicht von außenpolitischen Krisen weg: „Wenn man Rad fährt, bekommt man viel Sauerstoff und man entwickelt unbewusst Ideen, auf die man später zurückgreifen kann.” Seine Facebook-Followerinnen und -Follower lässt er an den Frankreich-Touren teilhaben. Auf der Social-Media-Plattform zeigt er sich in neongelben Rad-Shirts und mit rot-schwarzem Fahrradhelm. Für die Radsport-Nation Luxemburg ein klares Zeichen: Das ist einer von uns.

Aber Asselborn weiß sein Rad auch strategisch einzusetzen: Als eine Art Vertrauensbildung zwischen Kollegen. 2016 schwang er sich mit US-Außenminister John Kerry nach dem offiziellen Programm aufs Rad und sie drehten eine Runde durch seinen Heimatort Steinfort – Personenschutz des US-Politikers hintennach.

Vom Arbeiterkind zur Polit-Ikone

Für junge LSAP-Parteikolleginnen und -kollegen ist Asselborn eine „Ikone”. So bezeichnet ihn Gledis Kryeziu, Ortsvorsteher der Jeunesse Socialistes in Düdelingen.

„Würde jeder Politiker auf der Welt so klingen und sich so benehmen wie Jean, dann würde es keine Kriege geben”, schwärmt er.

Wenn Kryeziu über „den Jean” spricht, wirkt es, als seien die beiden beste Freunde. Oder Kryeziu spreche über seinen Lieblingsstar – und ein bisschen ist Asselborn das in seinem Heimatland auch. Ein sehr nahbarer Star. Innerhalb der Partei steht jeder hinter Asselborn, meint Kryeziu. Der Außenminister sei Vorbild für alle, von der Jugend bis zu den Abgeordneten. Auch sei er immer erreichbar und treffe sich zwischen außenpolitischen Reisen häufig mit der Basis für politische Diskussionen, aber auch mal auf ein Bier. Asselborn stellt sich nicht über andere und agiert auf Augenhöhe. Mit Parteikolleginnen und -kollegen, mit Mitbürgerinnen und Mitbürgern – kurz: mit jedem. Ein Grund für seine Nahbarkeit ist seine Herkunft. Asselborn wurde am 27. April 1949 in Steinfort geboren und wuchs in einer Arbeiterfamilie auf. Sein Vater Philippe arbeitete als Kranführer in einem Stahlwerk, Mutter Irma war Hausfrau. „Ich komme aus einer Familie, die nie ein Haus oder ein Auto besessen hat. Aber wir haben zufrieden gelebt”, sagt Asselborn in der von Margaretha Kopeinig verfassten Biografie. Sein Abitur holte er 1967 nach, nachdem er die Schule frühzeitig verlassen hatte, um beim Reifenhersteller Uniroyal zu arbeiten.

Der Mann aus der Arbeiterfamilie genießt in Luxemburg große Beliebtheit, sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung. Online-Umfragen sehen ihn seit Jahren als den beliebtesten unter den luxemburgischen Politikerinnen und Politikern. Genau dieses positive Image gefällt Asselborn – und er arbeitet aktiv daran, sein Image vom Europaverteidiger und Geradeheraus-Redner immer wieder zu untermauern. Er überlässt dabei nichts dem Zufall. Der Journalist Jean-Claude Franck berichtet, dass Asselborn vor Presseterminen sogar mal zum Hörer greift, um beim entsprechenden Medium nachzuhaken: Wer ist denn der Journalist und warum schickt ihr niemand Bekannten? Welche Art kritischer Fragen kommen könnten, will er im Voraus wissen. Am liebsten spricht er sowieso mit seinen altbekannten Journalistinnen und Journalisten – und auch nur zu Themen, auf die er Lust hat. Er scheint Sorge davor zu haben, in einem unvorbereiteten Moment erwischt zu werden und thematische oder sprachliche Fehler zu machen. So wie in seinem fast schon kabarettartigen Auftritt, bei dem er in der deutschen Kochsendung „Lafer, Lichter, Lecker” einen Kochlöffel benennen will, ihm hierfür aber die Vokabel fehlt. „Früher hatten wir immer einen Bengel, um das hier zusammen zu machen", sagt er etwas hilflos und rührt in seiner Metallschüssel. Ein bisschen Spott und Häme kratzte da 2008 an seinem Image.

Der lautstarke Europäer

Komplett sattelfest ist hingegen seine Persona auf dem internationalen politischen Parkett. Hier bekennt sich Asselborn immer wieder zur europäischen Idee: „Wenn ich mich ausdrücken musste, habe ich immer versucht, mich konform zu den Werten der Europäischen Union zu bewegen.” Wenn es um Migration geht, seine politische Herzensangelegenheit, frustrieren ihn einige seiner europäischen Kolleginnen und Kollegen. „Es ist schwer zu ertragen, dass immer dieselben Länder mit denselben Argumenten dagegen sind”, sagt er. Für Asselborn ist das aber kein Grund, von seinen Idealen abzurücken. Vor allem in schwierigen Zeiten steht er für die EU ein: „Man muss an die Europäische Union glauben, auch wenn es mal schiefläuft.” So wie beim Ausstieg Großbritanniens aus der EU. „Nach dem Brexit musste man sagen: ‚Jetzt stellen wir uns dieser Herausforderung, es darf nicht alles zusammenbrechen’. Ich glaube, das haben wir geschafft, das ist schon ein Erfolg.” Aber explizit kein Erfolg für ihn persönlich, sondern ein „Erfolg der Einstellungen, die man verteidigt.” Eine Aussage, die sinnbildlich für die Person Asselborn steht. Und seine größten persönlichen Erfolge als Außenminister? Kurzes Schweigen.

„Da hat man keine Erfolge, das gibt es nicht”, antwortet er.

Für ihn brennen sich die negativen Momente ein: „Es sind schon große Dämpfer gewesen. Der größte ist jetzt, der vom 24. Februar.”

Asselborn lässt sich oft von Emotionen treiben

Solche politischen Rückschläge lassen Asselborn nicht kalt. „Bei Themen, die ihm sehr nahe gehen, wird er emotional”, beschreibt der Journalist Franck vom Radiosender 100,7 Asselborns Art. Manchmal lässt er sich von seinen Gefühlen steuern, vergisst jegliche diplomatische Gepflogenheiten. In einem Live-Interview bei 100,7 sagte Asselborn Anfang März: „Wenn das russische Volk sehen würde, was Putin zerstört und wie viel Angst er macht und wie viele Leben er auf dem Gewissen hat. Da würde meiner Meinung nach der Kreml gestürzt werden. Das wäre ja auch alles, was man ihm wünschen würde, dass er wirklich auch physisch eliminiert wird, damit das da aufhört.“ Sich blind vor Emotionen zu so einer unüberlegten Äußerung hinreißen zu lassen – gefährlich für einen Außenminister und eine klare Grenzüberschreitung. Später entschuldigte sich Asselborn. Doch der verbale Ausrutscher bleibt in den Köpfen. Man könnte ihm zugutehalten, dass er klar für das einsteht, was er für gerecht hält – sein Weg, das zu tun, ist nicht immer der diplomatisch feinste.

Auch wenn seine Aussagen zu Putin zu weit greifen: Im internationalen Kontext ist Asselborn grundsätzlich als Klartext-Redner berüchtigt und geschätzt. Berühmt geworden ist sein wütendes „Merde alors!" nach rassistischen Parolen des damaligen Innenministers Matteo Salvini. Ein durchaus undiplomatischer Wutausbruch, der in der europäischen Gesellschaft aber gut ankam. Asselborn wurde spätestens da zu dem Mann, der dem Rechtspopulisten Salvini widerspricht und nicht vor Konfrontationen zurückschreckt.

Zur Innenpolitik äußert sich Asselborn selten

Zu internationalen Themen ist Asselborn stets zu hören – innenpolitisch bleibt er still. „Bei Themen aus der Innenpolitik – wie Schwangerschaftsabbrüche oder Legalisierung von Cannabis – hat er es fertiggebracht, nie Stellung zu beziehen”, kritisiert Journalist Franck. In einem kleinen Land wie Luxemburg kann man innenpolitisch schließlich nur begrenzt Einfluss nehmen. 20 Jahre Parlament und Lokalpolitik geben einem Mann, der die europäische Idee lebt und der nach Herausforderungen sucht, zu wenig Spielraum. Das räumt Asselborn selbst ein: „Ab einem gewissen Punkt habe ich gesagt, ‘du hast innenpolitisch alles gesehen, was du sehen musstest, du gehst jetzt einen anderen Weg und interessierst und implizierst dich in der Europapolitik und in der Außenpolitik’.”

Trotz des Wunsches, politisch größere Herausforderungen zu finden, ist Asselborn auf dem Boden geblieben. Er ist immer noch mit seinem kleinen Heimatort Steinfort verbunden, wo er von 1982 bis 2004 Bürgermeister war. Dort wohnt er auch heute noch. Jemand, der Jean Asselborn noch aus seiner lokalpolitischen Zeit kennt, ist Marc Parries. Der 65-Jährige war von 1980 bis 2020 Förster der Gemeinde Steinfort. „Für mich war der Mann immer sehr bürgernah und sozial in seinen Handlungen”, beschreibt Parries seine Erfahrungen mit Asselborn. Er habe nie aus dem Glashaus heraus regiert, sondern sich Informationen und Meinungen vor Ort geholt.

Auch die Leidenschaft fürs Radfahren hat Asselborn bereits in Steinfort gelebt. Wenn Parries und seine Kolleginnen und Kollegen von der Naturschutzbehörde im Eischtal Bäume entlang der Straße fällten, fuhr Asselborn oft mit seinem Fahrrad vorbei. „Herr Asselborn hat immer gesagt, dass die Strecke von Steinfort nach Mersch die schönste Radstrecke der Welt und sogar darüber hinaus ist”, sagt Parries und lacht. Man merkt, dass ihn dieses Urteil von einem erfahrenen Radfahrer sehr freut. „Wenn er da vorbei kam an uns – mit Helm und im Radanzug – hat er immer gehalten und kurz ein paar Worte mit uns gewechselt”, sagt Parries.

An der Bürgernähe von früher habe sich laut Parries auch heute nichts geändert: Vor Asselborns Wohnhaus in Steinfort stehen kein Sicherheitszaun und keine Wachposten – zumindest keine sichtbaren. „Wenn er nicht gerade Rad fährt oder die Welt rettet, dann trifft man ihn schon auch mal in seinem Garten bei der Arbeit”, sagt Parries. Und betont: „Ich könnte da schon auch vorbeigehen und bei den Asselborns klingeln.” Asselborn sei immer noch ein Mann von Steinfort. Er mache keinen Unterschied zwischen einfachen Bürgerinnen und Bürgern, zwischen Politikerinnen und Politikern. Vertraulichkeit ist Asselborns modus operandi. „Ich war immer sein Junge – alle waren sein Junge”, sagt Parries. Asselborn habe Väterlichkeit ausgestrahlt. Auch wenn Parries nur acht Jahre jünger als Asselborn ist.

Gradmesser für seine politische Fitness: Seine Radtouren

Zur Väterlichkeit kommt Asselborns politische Erfahrung hinzu. Seine 40 Jahre andauernde Politikkarriere wird wahrscheinlich so schnell niemand nachmachen. „Jean Asselborn kommt aus einer anderen Zeit. Es wird lange dauern, in seine Fußstapfen zu treten. Die Mission weiterzuführen, die Jean angefangen hat, wird schwierig werden”, sagt Parteifreund Kryeziu. Asselborn selbst weiß, dass sein Weg in die Außenpolitik – ganz ohne diplomatische Vorerfahrung – ein ungewöhnlicher war. Ratschläge will er jüngeren Kollegen nicht geben: „Ich weiß nicht, ob ich da einen Tipp geben kann. Ich habe ganz anders angefangen.” Noch stellt sich aber die Nachfolgefrage nicht. 2023 will er bei den Parlamentswahlen wieder antreten und Außenminister bleiben. Gradmesser für sein politisches Durchhaltevermögen wird sein Rad bleiben. Denn wie er in seiner Biografie zitiert wird: „Wenn ich nicht mehr Radfahren kann, ist der Ofen aus.”