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Epoche

Dem Eisen auf der Spur

Die Kulturhauptstadt Esch war lange Zeit ein Standort der luxemburgischen Stahlindustrie. Heute gibt es dort keine Minenarbeiter:innen mehr. Nur die architektonischen Überbleibsel erinnern an die einstigen Produktionsstätten, jetzt entstehen dort neue Orte kulturellen Schaffens. Unsere Autor:innen haben zwei Orte besucht, an denen kulturelles Upcycling beobachtet werden kann.


Grube Cockerille

Es ist bewölkt, schwül und düster zur Mittagszeit, als sich der Gelenkbus der Linie 12 aus der Escher Innenstadt in Richtung Außenbezirk windet. Die Destination, die ehemalige Mine Cockerille, liegt in „Grenz”. Schon vier Halte vor der Endstation „Place Pierreo Ponath” ist unser Autor allein im Bus. Die Mine ist heute ein Museum für Grubenhistorie, scheinbar ohne großen Besucheransturm.

Von der Bushaltestelle am Waldrand des Katzenberges sind es noch fünf Fußminuten, vorbei an einem Gartenlokal und einer zierlichen Schmalspur-Lokomotive, die nur noch aus Rost zu bestehen scheint. Es muss Jahrzehnte her sein, dass sie Arbeiter:innen in Minenschächte hinein und Erze aus Minenschächten heraus transportiert hat. Die vorindustriellen Backsteingebäude liegen eingefasst in einer Talspalte inmitten grüner Wiesen, wie für Fotografien drapiert. Dieser Ort strahlt bereits aus einiger Entfernung Idylle aus, er fühlt sich nicht nach schwarzer Grube, Dreck und körperlicher Arbeit an. Nachtigallen sausen zwischen ehemaligen Werkstätten und Aufenthaltsräumen hindurch, es duftet nach frischem Laub. Eicheln knacken im Gras unter den Sohlen.

Ganz nah dran

Ein alter Grubenbagger, der das Gelände und die Minenschächte formte, verrottet vor einem Schachteingang auf seinem Stellplatz. Seine sonnenblumengelbe Farbe ist hundertfach aufgeplatzt, schwarzbrauner Rost verbreitet seinen charakteristischen Metallgeruch – Tetanusimpfung empfehlenswert. Die Fahrerkabine bietet Platz für zwei kleine Personen – alles ist eng und minimalistisch an diesem Ort. Der Anspruch, nicht unnötig stark in die Natur einzudringen, gab zur Bauzeit um 1900 die Maßstäbe vor. Hinter dem Fahrzeug eröffnet sich eine gartenteich-große Wildblumenfläche. Für das Auge eines deutschen Spaziergängers klar als Bienenreservat zu identifizieren. Falsch. Eine von unzähligen Hinweistafeln klärt auf: Dieses Blumenbassin ist Teil einer Pflanzenkläranlage, denn das romantisch-zierliche Bergwerk war nie an die Kanalisation angeschlossen. Hummeln und Schmetterlinge genießen hier die Sonnenstunden, die zarte Blümchen aufblühen und tonnenschwere Stahlgefährten zerfallen lassen.

Auf einer Anhöhe ist eine Kapelle errichtet worden, auch hier will nicht die Größe überzeugen. Mit Mühe können zwei Personen neben dem Pastor vor den Altar treten. Zur Zeit beherbergt das Hüttchen ausschließlich eine thronende Figur der Heiligen Barbara. Die Beschützerin aller Bergleute wird von einem Stahlgitter geschützt. Die Arbeiter:innen hatten 1953 selbst und unentgeltlich das Gotteshäusschen errichtet. Jedes Jahr gedenken hier am letzten Novembersamstag ehemalige Bergleute und Hinterbliebene der Heiligen, auch lange nach Schließen der Mine. An solch einem Novembertag versprüht der Ort sicher ein klareres Bild von der Härte und Dunkelheit des Minenalltags als an diesem wechselhaften Mittwochnachmittag im Juli.

Licht ins Dunkel

Tiefer im Schatten des Waldes und des Katzenbergs suchen die einzigen anderen Besucher:innen, eine luxemburgische Grundschulklasse und ein Wanderer-Ehepaar, mit ihren Augen nach Abenteuern in der Dunkelheit der Minenschächte, natürlich nur vom Eingang aus – gesperrt wegen Einsturzgefahr. Auch die tobenden, brüllenden Kinder werden still, als ihre Lehrerin erklärt, wie weit unter der Erde hier gearbeitet wurde. Die Geschichte der Mine beendet sie mit: „Und 1967 haben die Arbeiter hier ihre Werkzeuge und Helme genommen und die Mine zum letzten Mal verlassen.“

Nach dem Exodus haben der Staat und ein Umweltschutzfonds den Komplex 1988 gekauft und zum Museum umstrukturiert. In den letzten Jahren haben Wald und Witterung das Erscheinungsbild der Mine Cockerille übernommen. Man kann nur unterschätzen, wie schnell die Natur von Menschen verlassene Orte wieder für sich vereinnahmt.

Die Ästhetik des Verfalls im ehemaligen Arbed Esch-Schifflange Stahlwerk. Foto: Hannah Bitzer

FerroForum (Arbed Esch-Schifflange Stahlwerk)

Achtlose Besucher:innen von Esch-sur-Alzette würden glatt am Eingang zum FerroForum vorbeieilen. Der Weg ist auch nicht gerade leicht zu finden. Erst, wenn man das Gelände des ehemaligen Arbed Esch-Schifflange Eisen- und Stahlwerkes betritt, sieht man vereinzelt Schilder, die versichern, dass man hier doch richtig ist. Große Stahltore versperren den Besucher:innen den Weg.

Zum Glück wartet Misch Feinen bereits an den Toren. Feinen hat das FerroForum-Projekt 2020 initiiert. Er bewegt sich wie selbstverständlich über das riesige Gelände, während er mit seinem luxemburgischen Akzent von der Geschichte des Ortes erzählt. Seit 1871 gibt es das Stahlwerk, gegründet von der Familie Metz. Es wurde im Laufe der Zeit erweitert und modernisiert. 140 Jahre lang war das Werk in Betrieb, 2011 folgte dann die Stilllegung.

Feinen ist freischaffender Künstler. Sein Vater und sein Großvater waren beide im Stahlwerk in Dudelange tätig. „Ich bin gewissermaßen vorbelastet, bin wie Obelix in den Topf gefallen”, erzählt er lachend. Er hat eine ganz besondere Beziehung zu diesem Ort. Ein Ort, so erklärt Feinen, an dem die Geschichte der Stahlindustrie, die Luxemburg 150 Jahre geprägt hat, in jeder Pore stecke.

Spuren der Vergangenheit

Ruhig ist es hier, das 65 Hektar große Gelände ist umgeben von Bäumen und Sträuchern. Dass hier vor ungefähr zwölf Jahren noch regsamer Betrieb gewesen ist, glaubt man heute kaum, denn jetzt liegt alles wie ausgestorben da.

Doch genau darum geht es bei dem Projekt: Die Vergangenheit soll erlebbar gemacht werden, es soll eine Spur bleiben von der Geschichte dieses Ortes. Überbleibsel davon stehen immer noch herum: bauchige Wassertanks, Hochöfen, meterhohe Stahlgestelle. Schienen führen quer über das Gelände, lange verlassen und von Grünzeug überwachsen.

Die riesigen Lagerhallen dürfen nur teilweise betreten werden. Der Boden ist uneben, immer wieder stolpern unachtsame Besucher:innen in Schlaglöcher. Schutthaufen türmen sich auf. Folgt man Feinen weiter durch die Halle, gelangt man ins Herz des Projekts: das eigentliche FerroForum, die frühere Zentralwerkstatt des Stahlwerkes. Hier riecht es nach Lack und Farbe. Vor nicht mal hundert Jahren waren hier alle Handwerksberufe unter einem Dach versammelt: Mechanik, Schmiede, Schweißerei und viele mehr.

Heute gleicht der Ort einem unordentlichen Museum. Geräte und alte Maschinen reihen sich nebeneinander auf, Kabel liegen auf dem Boden. An einem Rohr hängt ein vertrockneter Weihnachtsbaum. Auch der ist ein Überbleibsel der Vergangenheit: Es handelt sich um den Baum des Weihnachtsfests 2011, aus dem Jahr, in dem das Werk geschlossen wurde.

Café und Archiv in der Zentralwerkstatt

Feinen und sein Team, das aus 20 Freiwilligen besteht, haben sich intensiv mit der Geschichte des Stahlwerkes beschäftigt. Aus Dokumenten und Zeitzeug:innenberichten, alten Werkzeugen und Materialien haben sie ein Archiv angelegt. Es erzählt die Geschichte einer längst vergangenen Zeit, in der Eisen und Stahl den höchsten Stellenwert in der Region einnahmen.

Die ehemalige „Werkzeugbude“, wie Feinen sie nennt, ist jetzt ein Café, in dem auch Lesungen und Workshops stattfinden. Jedes erste Wochenende im Monat ist für Events reserviert, dann finden Fotoausstellungen oder Konzerte statt.

Die Menschen, die heute in Esch leben, hatten bisher wenig Berührung mit dem Stahlwerk. Die großen Tore am Eingang haben ihren Dienst getan, kaum jemand hatte Zutritt.

Aber nun, im Zuge des FerroForums, geht es darum, die Menschen an diesen Ort einzuladen und ihnen die Geschichte des Stahls näherzubringen. Denn irgendwann, das weiß auch Feinen, wird die Stahlindustrie komplett aus Luxemburg verschwinden. Aber an der Erinnerung an diese Zeit wird er festhalten.

Esch-sur-Alzette – auf Stahl gebaut

1821 hat Esch genau 810 Einwohner, ein kleiner Bauernort. Die Nähe zu Frankreich lässt den Handel florieren. Gerbereien, Tabakfabriken, Sägewerke, eine Ziegelei und weitere Betriebe siedeln sich an. Die wachsende Stadt wird 1860 an die Eisenbahn angeschlossen, es folgen die ersten Eisenhütten.

Dann der demographische Boom. Esch wird zur Metropole des Erzbeckens und bekommt seinen Stadttitel verliehen. Es entwickelt sich über die Alzette hinaus in den Süden, neue Arbeiterbezirke entstehen.

In den 1970ern wandert der Mittelstand mit dem Reichtum aus Beschäftigungen in Stahlfabriken in Dienstleistungsberufe ab und zieht aus dem Zentrum in die ländlichen Regionen Luxemburgs. Zwar gibt es in Esch weiterhin viele Arbeitsplätze, aber die wirtschaftliche und soziale Situation der Stadt ist ab 1975 fatal: Die Stahlkrise sorgt für hohe Arbeitslosigkeit und die migrantische Arbeiterschaft wird diskriminiert. Bis 1990 regieren Kommunismus und Sozialismus die Stadt.

Das postindustrielle Zeitalter wird um die Jahrtausendwende eingeleitet. Die Stadt soll nachhaltig, grün und attraktiv für grenzüberschreitende digitale Wirtschaft werden. Der Belval-Bezirk mit neuen Gewerben und einem Campus der Luxemburger Universität ist das Paradebeispiel. Kulturelle Vorhaben wie Stadtfeste, Theater, Museen und größere Bauprojekte werden priorisiert.

Quellen

  • Buchler, G.; Joedert, J.; Lorang; A.; Reuter, A.; Scuto, D., (2021), 1. Auflage, Esch-sur-Alzette. Geschichte und Architektur Stadtführer, ISBN: 978-99959-43-38-7.