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Politik

Bitte nur noch feine Leute

Die Arbeiterstadt Esch hat unter Luxemburgs Strukturwandel stark gelitten. Nun wird sie gentrifiziert, für die arme Bevölkerung dürfte kein Platz mehr sein. Dass Esch 2022 Europäische Kulturhauptstadt ist, verstärkt die Probleme.


Heute gibt es Hähnchen, mit Salat und Couscous. Der Teller ist gut gefüllt. Jos stochert mit der Gabel in seinem Essen herum. Der 78-Jährige ist fast komplett erblindet, daran ist Diabetes schuld. Jos ist ehemaliger Stahlarbeiter. Über viele Jahre stand er bei 1000 Grad am Hochofen, ein Knochenjob.

Er ist einer von ungefähr 100 Gästen, die heute zum Essen bei der Stëmm vun der Stroos (Deutsch: „Stimme der Straße“) sind. Die Stëmm, wie sie hier auch genannt wird, ist ein luxemburgischer Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die hilfsbedürftigen Menschen in Esch-sur-Alzette, Luxemburgs zweitgrößter Stadt im Süden des Landes, zu unterstützen. 50 Cent kostet eine warme Mahlzeit, ein Nachweis der Bedürftigkeit ist nicht notwendig. Viele der Menschen leben auf der Straße, haben eine lange Drogengeschichte hinter sich oder gehen keiner regelmäßigen Arbeit nach. Es gibt viele arme Menschen in Esch und es werden mehr.

Der ehemalige Stahlarbeiter Jos ist nicht arm. Er kommt bereits seit vielen Jahren zum Mittagessen vorbei, weil er das Gemeinschaftsgefühl der Stëmm schätzt. Er gehört zur alten Generation der Arbeiter:innen in Esch, die vom Lohn ihrer Maloche leben konnten und im Alter abgesichert waren, als sie in Rente gingen. Er ist einer derjenigen, die Eschs Wohlstand schufen, bevor mit der Stahlkrise der siebziger Jahre der schleichende Strukturwandel einsetzte. Luxemburg wurde zum Banken- und Dienstleistungsstandort umgebaut, das große Geld wird seitdem in der Hauptstadt verdient.

In Esch hingegen wurden Strukturen abgebaut, bislang. Die in den vergangenen Jahren in Verruf geratene Arbeiterstadt wird nun einem weiteren schonungslosen Wandel unterzogen. Dass Esch Europäische Kulturhauptstadt 2022 ist, spielt dabei eine wesentliche Rolle.

Arm trotz Arbeit

Der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft hat nicht nur Gewinner:innen hervorgebracht. Carole Reckinger sieht das jeden Tag. Die Expertin für Sozialpolitik bei der Caritas Luxemburg erläutert das Problem: „In Luxemburg gibt es kaum Arbeitsplätze für Menschen mit geringer bis keiner Qualifikation.” Esch hat mit knapp 11 Prozent die höchste Arbeitslosenzahl aller luxemburgischen Kommunen.

Carole Reckinger: „Über das hohe Armutsrisiko wird nicht diskutiert.” (Foto: Alina Hanss)

Zu Zeiten des Aufschwunges im an Eisenerz reichen Süden des Landes war das noch anders. Es gab so viele gut bezahlte Jobs, dass zahlreiche Arbeiter:innen aus Italien und Portugal nach Luxemburg emigrierten. Die Communitys sind nach wie vor sehr präsent in der Stadt: Mehr als 30 Prozent der Escher Bevölkerung sind portugiesisch. Statistisch gesehen haben Portugies:innen einen geringeren Bildungsabschluss als Luxemburger:innen. Ohne Studium haben sie keine Chance auf einen gut bezahlten Job in der Verwaltung, bei einer Bank oder in der Unternehmensberatung.

Hochschulabschlüsse / Meister in Prozent

Dennoch kommen immer noch Menschen aus Portugal nach Luxemburg, berichtet Reckinger. Heute ließen sie sich vom Versprechen des hohen Mindestlohns locken, sähen die exorbitanten Lebenshaltungskosten aber nicht. Einige würden eine zeitlang im Auto schlafen, andere landeten auf der Straße, sagt die Expertin. Wer eine Anstellung findet, arbeitet meist illegal in einem der vielen Restaurants und Cafés, hat keinen Anspruch auf Sozialversicherung. Diese Menschen sind nur einen Schicksalsschlag davon entfernt, bei der Stëmm zu Mittag zu essen oder bei der Caritas einkaufen zu müssen.

Die Inflation trifft die Armutsgefährdeten mit voller Wucht. Die gestiegenen Kosten und der Mangel an Lebensmitteln machen sich bei der Caritas besonders bemerkbar. Der Preis von Speiseöl beispielsweise ist von 75 Cent auf 2,90 Euro gestiegen, in den vergangenen vier Jahren. Im selben Zeitraum sei die Zahl der Kund:innen um 30 Prozent gewachsen, sagt Expertin Reckinger. Mit dem Wegfall der staatlichen Corona-Hilfen und der drastischen Preisentwicklung bereitet sich die Caritas auf eine weitere Zunahme an Bedürftigen vor.

Wenn Herkunft über Geld entscheidet: Lohnunterschiede in den Communitys.

„Über das hohe Armutsrisiko wird nicht diskutiert”, sagt Reckinger. Das liegt daran, dass es sich in vielen Fällen hinter einer geregelten Erwerbstätigkeit versteckt. Auch Arbeit schützt vor Armut nicht. Das lässt sich mit einer europäischen Statistik belegen, in der Luxemburg den traurigen zweiten Platz einnimmt. Laut dem Bericht des European Social Policy Network von 2019 liegt der Anteil der sogenannten Working-Poor, also Menschen, die trotz einer geregelten Arbeit von Armut gefährdet sind, in Luxemburg deutlich über dem EU-Durchschnitt. 13,7 Prozent der Beschäftigten können von ihrer Arbeit nicht leben. EU-weit ist es der zweithöchste Wert, hinter Rumänien mit 17,3 Prozent.

Der wesentliche Treiber der Armut ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Das internationale Finanzgeschäft zieht hochqualifizierte Kräfte aus der ganzen Welt an. Für die gut bezahlten Banker:innen und Unternehmensberater:innen wird luxuriöser Wohnraum geschaffen, zum Beispiel in Esch-Belval, in dem ehemals Menschen wie Jos am Hochofen standen. Das Lohnniveau der Wohlhabenden treibt Wohnungspreise und Lebenshaltungskosten für die Armen in die Höhe. Es ist eine Entwicklung, die dadurch noch verstärkt wird, dass die Stadt Europäische Kulturhauptstadt 2022 ist.

Esch ist tot?

Das Künstlerkollektiv Richtung 22 (R22) tagt im zweiten Stock eines ehemaligen Bürogebäudes der internationalen Stahlbaugesellschaft ArcelorMittal. An den Wänden hängen Wochen- und Monatspläne mit den anstehenden Projekten. Vor einem der Fenster steht ein Pappmaschee-Mittelfinger, die Miniaturversion der meterhohen Unmutsgeste, die R22 wenige Tage zuvor in die Escher Innenstadt gestellt hatte.

Das Kollektiv hatte die Besetzung der Place de la Résistance durch Aktivist:innen inszeniert. Die Guerillakunst steht exemplarisch für die aktivistische Arbeit des Kollektivs. Die Besetzung des öffentlichen Raums galt denjenigen Bürger:innen Eschs, die sich vom Kulturprogramm nicht eingeladen fühlen. Ihnen sollte die Möglichkeit gegeben werden, ihre Sorgen loszuwerden, über die Dinge zu sprechen, die sie wirklich bewegen – vor allem die Wohnungsnot und die immer rasanter steigenden Preise.

Esch sei Symbol dessen, was in Luxemburg vor sich gehe, sagt der 34 Jahre alte Künstler Lars. Die Zeichen stehen auf Gentrifizierung. Die Entwicklungsgesellschaft Agora, eine Partnerschaft des luxemburgischen Staates und des Stahlkonzerns ArcelorMittal, plant in Esch-Belval ein Viertel auf dem Reißbrett. Das Quartier um die neue Universität und die alte Industriebrache soll Technologie- und Wissensstandort werden. 7 000 Menschen sollen auf dem Konversionsgelände wohnen, arbeiten, konsumieren. All das, ohne Belval verlassen zu müssen, wie Agora auf der eigenen Webseite wirbt.

Industrieromantik: In Belval entsteht ein neues Quartier. (Foto: Johannes Müller)

Die Fokussierung auf das „neue Belval” mit seinen schicken Einkaufszentren und hochpreisigen Wohnungen nehme das Leben aus dem gewachsenen Esch, kritisiert Elif, 29, die ebenfalls zu R22 gehört. Die Aktivistin hat für ein Kunstprojekt mit Cafébesitzer:innen aus der Innenstadt gesprochen. Sie glauben, dass Esch schon tot ist. „Es ist doch immer die Frage, wer vertrieben wird“, sagt Elif. Und welche Rolle spielt dabei der Titel „Kulturhauptstadt”?

Für R22 ist die Antwort klar. Das Angebot von Esch 22 diene als Werbebande für eine anspruchsvolle neue Klientel, die sich in Belval niederlassen soll. Industrievergangenheit und Arbeitergesellschaft seien nur noch Kulissen. Es werde Hochkultur eingeführt, die für die Arbeiter:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte nicht gedacht sei. Nicht gedacht für diejenigen mit geringerem ökonomischen Kapital und dem dadurch eingeschränkten Zugang zu kulturellen Veranstaltungen. „In dieser Kunst wird Klassenappropriation betrieben“, sagt Elif. Das Kulturprogramm von Esch 22 mache sich die Lebensumstände der benachteiligten Arbeiterklasse zu eigen, um davon zu profitieren.

Wie gehaltvoll ist die Kritik, dass der Titel der Europäischen Kulturhauptstadt vor allem ein groß angelegtes Programm zur Gentrifizierung von Belval sei? Treffen mit Nancy Braun. Die Generaldirektorin des Kulturjahres antwortet nicht sofort, dabei hört sie den Vorwurf nicht zum ersten Mal. Eine Weile herrscht Stille. Dann sagt Braun, dass eine Transformation in vielen Vierteln Eschs stattfinde. „Natürlich soll dieses Projekt ein Push sein.“ Von dem Vorwurf der Gentrifizierung distanziert sie sich nicht. Wie es in Zukunft weitergehe, sei Teil der Stadtpolitik.

Hier wird es spannend, Eschs konservativer Bürgermeister Georges Mischo (Christlich-Soziale Volkspartei) hat sich in einem Tageblatt-Interview Ende 2020 von Belval distanziert. Ein zweites oder drittes Belval dürfe es nicht geben, „sonst blutet das Escher Zentrum aus.“

Kunst am Bau: R22 arbeiten in den ehemaligen Büroräumen eines Stahlkonzerns. (Foto: Alina Hanss)

R22 ist zwar Teil des Programms der Kulturhauptstadt, zugleich aber dessen schlechtes Gewissen. Nancy Braun jedenfalls stört sich an den Künstler:innen, das wird deutlich, wenn man sie auf die Gruppe anspricht. „Unsere Lieblinge“, sagt Braun ironisch und lacht. Die Organisator:innen hätten die Teilnahme von R22 selbstverständlich diskutiert. Dabei setzte sich jedoch die Ansicht durch, dass es keine kluge Idee sei, das Kollektiv aus Angst vor Satire auszuschließen. Oder wie Braun es formuliert: „Dann wird es wahrscheinlich noch schlimmer werden, wenn man sie nicht beachtet oder involviert.“

R22 sei sogar ein wichtiger Partner, gerade weil die Künstler:innen auf Missstände aufmerksam machten, „sodass man sagt: Ja, die haben doch Recht, aber…”, sagt Braun. So sorgt R22 aus Sicht der Direktorin für ein wenig innere Hygiene. Das, was die Aktivist:innen bisher unternommen hätten, sei ja „harmlos“ gewesen.

Der Bürgermeister droht mit Klage

Nur sieht das wohl nicht jede:r so, allen voran Bürgermeister Mischo. Im Juni präsentierte R22 einen Spielfilm mit dem Titel „Esch ass dout!“ (Esch ist tot!). Der Untertitel lautete: „Und Agora hat es getötet.“ R22 hängte Plakate für den Film in der Stadt aus. Mischo ging das derart gegen den Strich, dass er den Künstler:innen einen Brief schickte, in dem er mit einer Klage drohte. Der Vorwurf: Die Stadt werde verschandelt, es entstehe der Eindruck, die Verwaltung handle laissez-faire.

Der Inhalt der Plakate wird in diesem Brief nicht kritisiert, das Künstlerkollektiv ist aber der Überzeugung, dass die Stadtregierung die Ausrichtung des Films nicht dulde. Für ein Treffen war Mischo nicht zu gewinnen. Die Anfrage, ob mit dem Brief eine kritische Begleitung des Kulturjahres verhindert werden solle, verneinte der Bürgermeister einsilbig. Lars von R22 sagt: „Wir haben politisch Verantwortliche hier, die uns gesagt haben, dass sie uns lieber heute als morgen aus der Stadt hätten.”

Druckmittel hat der Bürgermeister durchaus. R22 profitiert finanziell immens davon, dass Esch Europäische Kulturhauptstadt ist. Insgesamt 400 000 Euro Budget stehen dem Kollektiv laut eigenen Angaben für seine Kunst zur Verfügung, 50 000 Euro kommen von der Stadt. Um das in Relation zu bringen: Zuvor hatten die Künstler:innen nur knapp 2 000 Euro zur Verfügung – ebenfalls für die Projekte eines ganzen Jahres. In der Abhängigkeit von dem neuen Geld hat R22 Strukturen geschaffen, 26 Künstler:innen sind inzwischen angestellt. Wird die Förderung nach dem Kulturjahr weitgehend entzogen, folgt der “komplette Kahlschlag”, sagt Lars.

Kunstform Journalismus: Elif und Lars von R22 lesen in ihrer eigenen Zeitung. (Foto: Alina Hanss)

Das Kulturjahr ist ein PR-Tool für einen Wandel, unter dem ein Großteil der angestammten Bevölkerung in Esch leiden wird. Bleibt noch die Frage, inwiefern die Strategie aufgeht. Dass Esch die langweiligste Kulturstadt aller Zeiten sei, wie es ein Journalist des britischen Telegraph vor Kurzem formulierte, mag ungerecht sein. Tatsächlich aber scheint das Angebot von der lokalen Bevölkerung als das angesehen zu werden, was es aus Sicht Nancy Brauns auf keinen Fall sein sollte: ein UFO, das nur kurzzeitig gelandet ist, fremd, außerweltlich. Wenn man Menschen in Esch fragt, ob im Café, in der Bar, am Bahnhof oder in sozialen Einrichtungen, was sie von dem Konzept der Kulturhauptstadt halten, ähneln sich die Antworten. Die einen bekommen gar nichts mit, andere fühlen sich nicht angesprochen, interessiert ist niemand. Die Blockbuster-Ausstellung Earthbound in der Möllerei in Belval bleibt unter der Woche so gut wie leer, wie ein Guide berichtet. Auch an den Wochenenden würden nur bis zu 100 Leute kommen, hauptsächlich Gruppen von außerhalb. Zudem sei das Medieninteresse am Kulturjahr gering, sagt R22. Und alle, wirklich alle rollen die Augen, wenn sie von der Eröffnungszeremonie in Belval reden. Geplant wurde sie von einer Berliner Agentur, ein durch eine Lichtshow inszenierter Raketenstart sollte den Aufbruch symbolisieren. In Esch löste das Befremden aus. Zu den Feierlichkeiten seien mehr Menschen aus Luxemburg-Stadt gekommen als aus Esch selbst, sagt Lars von R22. Die Leute würden immer noch den Kopf schütteln, erzählt der Stahlarbeiter Jos vor seinem Hähnchen in der Stëmm sitzend und schmunzelt: „Das muss man sich mal vorstellen, zwei Millionen für einen Abend mit dem Großherzog.“

Prinzip Kulturhauptstadt

Die Verleihung des Titels „Kulturhauptstadt Europas“ geht auf eine 1985 von der Europäischen Union ins Leben gerufene Initiative zurück. Diese wählt seitdem jedes Jahr - und mit einem Vorlauf von vier Jahren - ein bis zwei Städte aus, die diesen Titel tragen dürfen. Die ausgewählten Städte erhalten dann Fördermittel in Höhe von 1,5 Millionen Euro von der EU für geplante Kulturprojekte. Ziel ist nach Angaben der Europäischen Kommission, die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in der EU herauszustellen und die Identifikation der Bürger und Bürgerinnen mit Europa zu stärken. Außerdem sollen europaübergreifende Verbindungen und Beziehungen geschaffen werden. Der Titel ermöglicht es den Städten erfahrungsgemäß, international bekannt zu werden, ihren Tourismus zu stärken und die Stadtentwicklung voranzutreiben. Als Folge der Pandemie gibt es in diesem Jahr drei Europäische Kulturhauptstädte: Außer Esch wurden noch Novi Sad in Serbien und Kaunas in Litauen ausgewählt. Jede Stadt bietet 2022 ein vielseitiges Kulturprogramm an, mit jeweils mehr als 1000 Veranstaltungen.