Text von
Stefan Schuchort
W
enn einem jemand erzählt, er sei kürzlich auf dem Plateau du Kirchberg gewesen, entsteht vor dem inneren Auge umgehend ein Bild von einer Kapelle samt Gipfelkreuz. Eingebettet in ein malerisches und Ruhe spendendes Bergpanorama. So staunt man bei einem Besuch des luxemburgischen Kirchbergs nicht schlecht. Dieser Ort ähnelt keineswegs einem Gotteshaus in den Alpen. Hier thronen nicht etwa Zeus, der luxemburgische Großherzog Henri oder gar der Papst, sondern EU-Institutionen, Bankentürme und die Philharmonie Luxemburgs.
Dieses Europaviertel kann vom Pfaffenthal in der Luxemburger Unterstadt aus auf zwei Wegen erreicht werden: Über die 2017 eröffnete Standseilbahn und über den Parc des Trois Glands, der eher ein Wald ist. Kommt einem das Pfaffenthal am Flussufer der Alzette schon dörflich verwunschen vor, so findet man sich beim Aufstieg durch den Park jäh in einem kleinen Märchenwald wieder. Desto größer wiegt der Kontrast, wenn der Besuchende nach nur ein paar Minuten auf dem massiven Beton des Kirchbergplateaus aufschlägt. Empfangen wird der Neugierige von griesgrämig dreinblickenden Bauarbeitern. Generell erweckt das Europaviertel den Eindruck, dass es weniger Menschen als Bauherren anzieht.
Viele Gebäude ragen hoch in den Luxenburger Himmel und verstecken unzählige Eurokraten hinter spiegelnden Glasfassaden. Foto: Stefan Schuchort.
Die allermeisten Gebäude sehen jedoch auch nach der Fertigstellung renovierungsbedürftig aus. Es ist ein Rätsel, warum Regierungsviertel oft wie riesige Ungeheuer aus Stahl und Glas daherkommen. Wie Ungetüme schießen sie hervor, die goldglänzenden Zwillingstürme des Europäischen Gerichtshofes und der Tour Alcide de Gasperi, in dem der Europäische Rat sein Unwesen treibt. Die triviale Antwort auf die Frage nach der Konstruktionsweise könnte freilich lauten, dass die heutige EU den Anfängen als Montanunion huldigen möchte und die EU-Institutionen mit ihren gläsernen, aalglatten Fassaden Transparenz und Professionalität verkörpern sollen. Doch das ist ein riesiger Schwindel. Um wirklich einen Einblick in die oberen Etagen zu erhalten, bräuchte der Schaulustige einen Giraffenhals oder zumindest eine Drohne. Schaut man in die ebenerdigen Geschosse, blickt einem nur das verzerrte Spiegelbild entgegen. Während es für den jungen EU-Beamten eine passende Gelegenheit sein muss, sein Antlitz und gegebenenfalls sein frisch gepudertes Näschen zu prüfen, wirkt diese massive Wand aus Glas und Stahl auf den Neuankömmling eher einschüchternd und abweisend.
Die nahegelegenen Bauwerke, die Philharmonie, das moderne Kunstmuseum und das nationale Sport- und Kulturzentrum “Coque” sollen dem Viertel Leben einhauchen, wo keines ist. Doch damit nicht genug, die öffentliche Hand investiert massiv in den Wohnungsbau. Damit nach Büroschluss mehr Trubel in die Luxemburger Upper East Side kommt, sollen langfristig 16.000 Menschen den Kirchberg bewohnen. Drei Mal mehr als noch 2018. Auch wenn der Bauplan vorsieht, einen Teil als sozialen Wohnraum anzupreisen, liegt der Verdacht nahe, dass aus dem Kirchberg eine Living Community für den folgsamen EU-Tross entsteht. Wohnraum für ein homogenes Gefüge, das im besten Fall gleich die nächste Generation an fleißigen EU-Bienchen hervorbringt. Das luxemburgische Europaviertel entspricht allem Anschein nach dem Vorbild des niederländischen Architekten Rem Koolhaas. Denn der Stadtteil wirkt wie eine generische Stadt ohne Identität, in der alles der Effizienz untergeordnet ist. Eine architektonische Dating-Agentur, die Nachfrage und Angebot paart.
Die Menschen, die der Zugereiste an einem Montagnachmittag erblickt, sind, wie der Berliner Kioskbesitzer sagen würde, feine Pinkel. Der männliche Eurokrat trägt vorzugsweise dunkelblauen Anzug, hellblaues Hemd und dunkelblaue Krawatte. Das weibliche Pendant einen engen förmlichen Rock, dezenten Lippenstift – nur die Farbe des Blazers dürfen die adretten EU-Dienerinnen scheinbar frei nach Belieben auswählen. Idealerweise operieren beide Geschlechter mit Sternen als Manschettenknöpfe. Die bevorzugte Kombination der Sorte Menschen, die nach außen vorgeben wollen, dass sie im tiefen Inneren an die europäische Idee glauben und nicht an das nächste Empfehlungsschreiben.
Der Beobachter kommt sich zunehmend vor wie in der Folge „Nosedive“ der britischen Anthologie-Serie Black Mirror. In dieser Episode bewerten die Menschen nicht nur Restaurant- oder Arztbesuche mit bis zu fünf Sternen, sondern in jeder noch so kurzen Interaktion sich gegenseitig. Die menschgewordenen Ameisen im Europaviertel scheinen längst die Transformation in Objekte durchgemacht zu haben, die sich ständig für neue Bewertungen in Schale werfen müssen. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass alle Krawattenträger auf dem Kirchberg furchtbar angepasst wirken, jederzeit über jeden Zweifel erhaben sind und das Wichtigste in jeder Lebenslage: gefällig rüberkommen.
Bevor ihn die Tram wieder zurück in die schmucke Luxemburger Altstadt trägt, lässt der allmählich vom modernen Spießbürgertum ermüdete Passant noch einmal den Blick schweifen. Gegenüber der Philharmonie erstreckt sich so etwas wie ein Pausenhof für abgerackerte Anzugträger. In einer drei mal zehn Meter langen Kieskiste vor dem Infinity Shopping Center befindet sich eine Boulebahn. Spielen will keiner. Es liegen auch keine Kugeln bei, mit denen sicherlich auch in der Freizeit ehrgeizige Ratsmitglieder eine Partie wagen könnten. Bei längerem Betrachten ploppt die Frage auf, ob die vermeintliche Boulebahn nicht auch ein besonders trostloses Kunstwerk sein könnte. Über dem Einkaufszentrum beobachten Schafe das Treiben. Keine echten, sondern leblos zusammengepresste Replikate aus Kunststoff. Ob die Schafstatuen jedoch auf die landwirtschaftliche Historie des Kirchbergplateaus anspielen oder sie insgeheim eine Persiflage der hiesigen Arbeitnehmer sind, darf sich jeder Kunstgucker selbst ausmalen.