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Kunst

Road Trippin'

Unser Autor begibt sich auf eine Tour de Luxembourg, um der Band Seed to Tree in ihrem Proberaum einen Besuch abzustatten. Nicht etwa mit dem Auto, sondern mit dem Leihrad.


P assend zur Bandbeschreibung von ARTE lautet die neue Single der Band Seed to Tree Car. Im Refrain spricht Sänger Georges Goerens die Warnung aus: „If you wanna try / I wouldn’t aim too high / go faster, you will crash the car“. Dann doch lieber den sicheren Drahtesel nehmen. Von der Luxemburger Altstadt aus geht der Weg mit dem vel’OH!, wie die Luxemburger:innen ihre Leihfahrräder nennen, gen Westen. Zunächst werden das Wohnviertel Belair und ein Industriegebiet der Hauptstadt passiert. Nachdem der beschauliche Ort Bertrange durchquert ist, kommt das erste Mal der für Seed to Tree so typische Roadtripvibe auf. Denn an Feldern und Wiesen vorbei ruckelt das Leihrad, angetrieben vom E-Motor, über eine schmale asphaltierte Landstraße. Die abendlichen Sommersonnenstrahlen im Gesicht, das Rauschen des kühlen Fahrtwindes im Ohr und ein Sixpack Gerstensaft als Eintrittskarte für den Proberaum im Gepäck.

Der Proberaum von Seed to Tree befindet sich im Anbau eines ehemaligen Gehöfts aus dem 19. Jahrhundert. Auf den letzten Metern zur gut erhaltenen, sandsteinfarbenen Gutsanlage überholt ein grauer Peugeot. Schlagzeuger Michi Mentgen steigt aus. Er erzählt, dass hier die Eltern eines Schulfreundes wohnen. Der Sohn, selbst Musiker, baute den Proberaum für eigene Zwecke aus. Mittlerweile teilen sich mehrere luxemburgische Bands den Proberaum. Das Angebot, in den heiligen Hallen der Rockhal in Esch-sur-Alzette zu proben, lehnten Seed to Tree ab. „Hier auf dem Land finden wir die nötige Ruhe und Intimität für unseren Sound“, sagt Mentgen.

In diesen Tagen schließt sich für die Band ein Kreis. Als sich 2011 Frontmann Georges Goerens, Gitarrist Benjamin Heidrich und Schlagzeuger Michi Mentgen zu Seed to Tree formierten, spielten sie auf ihren ersten Gigs in Bars diverse Cover. Unter anderem den Song Open Your Eyes von Snow Patrol. Nun, am Tag nach der Probe, soll die Band als Support für die Britpop-Gruppe an der Neumünsterabtei in Luxemburg Stadt auftreten. Die drei Endzwanziger kennen sich seit der Kindheit. Vor den Aufnahmen ihrer ersten EP suchte das dreiköpfige Gespann 2012 nach einer Person, die den ersten fünf Songs eine Bassline verpasst. Die Wahl fiel auf den Gitarrenlehrer von Goerens und Heidrich. Benjamin Genz brachte neben einem E-Bass auch die Erfahrung von früheren Bandprojekten mit. Der Ursprung des Bandnamens geht auf das Lied Seed To A Tree des Alternativ-Rock-Quintetts Blind Melon zurück. Der eingängige Zuckerwatten-Roots-Folk der ersten EP der Luxemburger, The Early Years, hat allerdings sowohl musikalisch als auch textlich nichts mit der Fuck-it-Mentality der Rocker vom Mississippi zu tun.

Mit Producer zu neuen Ufern

Nachdem alle am Gutshof eingetrudelt sind, geht es an der Scheune vorbei Richtung Proberaum. Im hochtechnologisierten Luxemburg ist freilich kein Schlüssel zum Öffnen nötig. Zum Entriegeln der Tür reicht die Bluetooth-Funktion eines Handys aus. In dem rechteckigen Zimmer liegen rote Teppiche auf dem Laminatboden aus. An den Wänden kleben Fetzen aus Schaumstoff für eine bessere Akustik. Sie erinnern an Eierschachteln und entsprechen dem Ambiente des umliegenden Bauernhofs. Die Bandkollegen stellen sich im Kreis auf. Viel näher beieinander, als es der Raum hergeben würde. Nach dem Aufbau und Stimmen der Instrumente knipst Bassist Genz eine Lampe an, dann noch eine zweite und schließlich eine Lichterkette, bis beruhigendes Licht den Raum wärmt. Sobald die Lichterkette leuchtet, ebbt das Geplauder der Bandmitglieder ab. Jeder improvisiert ein paar Takte und ohne Ansage oder Einzählen beginnt die Band ihr Set für den morgigen Auftritt zu üben.

Vor dem kommenden Album entschieden Seed to Tree, erstmals einen Producer an der Entstehung mitwirken zu lassen. Der Deutsche Thomas Harsem, der bereits 2019 für den Mix des letzten Albums Proportions zuständig war, lud die Band über Ostern in sein Studio ins schwedische Uppsala ein. Für die Band war das kein leichter Schritt. Mitunter über ein Jahr entwickelte Songideen wurden innerhalb von zwei Tagen umgeworfen. Der immense Einfluss des Produzenten kam nicht bei allen Bandmitgliedern gut an. Harsems Mitarbeit brachte aber auch Vorteile mit sich. Im heimischen Proberaum erwies es sich oftmals als schwierig, Kritik anzunehmen. Denn laut Schlagzeuger Mentgen herrschte in der Band teils ein Klima, dass im Luxemburgischen das Wort Expressegkeet zusammenfasst. Es bedeutet bewusstes Gegenlenken. Neu vorgebrachte Songideen kritisierten die anderen Bandmitglieder vereinzelt direkt, ohne sich ernsthaft darauf einzulassen. „Niemand in der Band hört gern, wie er sein Instrument zu spielen hat“, sagt Schlagzeuger Mentgen. Produzent Harsem habe schnell erkannt, dass die vier Musiker individuell etwas produziert hatten, aber nicht die Band als Einheit. In der Osterwoche in Uppsala fand die Band zu einer Symbiose. Aktuell befinden sich die Songs in der Postproduktion. Das neue Album soll im kommenden Frühjahr erscheinen.

Von Roots-Folk zu Indie-Pop

Während das Debutalbum Wandering aus dem Jahr 2015 bereits experimenteller und das 2019 erschienene Nachfolgealbum Proportions elektronischer und abwechslungsreicher waren als die Folk-Songs aus der Anfangszeit, soll das neue Album noch poppiger und radiotauglicher werden. Wie im Indie-Pop üblich, steht in den Albumversionen der Gesang im Vordergrund. Begleitet wird er von einer stabilen Rhythmussektion. Im Proberaum und bei Liveauftritten hören sich die Luxemburger rockiger an. Die Instrumente kommen deutlicher hervor, wie beispielsweise im letzten Track des Proportions-Albums. Der langsam und ruhig beginnende Song What Did You Mean by That entfaltet an seinem Höhepunkt live eine mitreißende Sogwirkung. Neben einigen tanzbaren Songs bieten Seed to Tree jedoch auch den idealen Soundtrack zum Runterfahren. Die eingängigen Melodien zwischen Indie und Dreampop fangen durchmachende Partygänger:innen im Morgengrauen zärtlich auf und tragen sie wohlig warm ins Bett.

In der Pause tauschen die Bandmitglieder bei einem Bier auf einer Bank vor dem Bauernhaus Anekdoten aus. 2016 trat die Band auf dem Galapagai Festival in Litauen auf. 24 Stunden Anreise. Nonstop mit dem Auto. Das schweißt zusammen. Die Vier freuen sich immer sehr auf die gemeinsame Zeit im Tourbus, erzählen sie. Im Alltag dagegen verbringen sie wenig Zeit miteinander. Auch die Freundeskreise überschneiden sich kaum. Laut Band ein Vorteil, weil sie so niemand gegeneinander ausspielen kann. “Wenn man zu viel Zeit miteinander verbringt, lernt man nicht nur die schönen Charakterzüge, sondern auch die Macken der Bandkollegen kennen”, sagen sie. Dennoch hätten alle das gemeinsame Feiern nach Konzerten liebgewonnen. Auch die Unterbringung in meist vom Veranstalter gestellten Künstlerwohnungen bringe witzige Geschichten mit sich. In Braunschweig hätten sie einmal in einer heruntergekommenen Bude in einer winzigen Küche geschlafen. Als sie in den frühen Morgenstunden in ihre Schlafsäcke schlüpften, weckte sie, gerade erst eingeschlafen, ein gleißendes Licht. Die Lampe des Terrariums der bisher unbemerkten Schildkröte war darauf programmiert, wie jeden Tag um fünf Uhr anzuspringen.

Sei freundlich und subversiv!

Mit Blick auf die Beschreibung von ARTE als “musikgewordener Roadtrip” würde es nicht verwundern, wenn das Quartett in den nächsten Jahren den Soundtrack eines Roadmovies produzieren würde. In einer Zeit, in der ein Remake nach dem anderen in die Kinos kommt, wären Seed to Tree ein heißer Kandidat für die Filmmusik der Neufassung von Into the Wild. Ihre Songtexte erzählen von den Unzulänglichkeiten der Anderen, oftmals aber auch der eigenen Person. Das melancholische lyrische Ich des meistgestreamten Songs der Band, Apart, passt gut zu der im Film gezeigten Suche des US-Amerikaners Christopher McCandless nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft. „Being friendly and subversive / There is nothing I should hide from“ heißt es in der ersten Strophe von Apart. McCandless, den Weggefährt:innen im gleichnamigen Buch von Jon Krakauer als freundlichen, jungen Mann beschreiben, stellte die bestehende soziale Ordnung immer wieder in Frage und versteckte sich deswegen vor ihr in den Wäldern Alaskas. „A competition that won’t be relief / Show yourself some pride“ könnten ebenso gut von McCandless sein. Er nahm das Leben genau als das wahr, was Seed to Tree-Sänger Goerens der Gesellschaft hier vorwirft: Ein Wettbewerb zu sein, der keine Erleichterung mit sich bringt. Obwohl McCandless in seiner Schul- und Universitätslaufbahn durchaus das hatte, was die herkömmliche (amerikanische) Gesellschaft als Erfolge verbucht, war er nie stolz darauf.

Am Schluss der zweiten Strophe von Apart besingt Goerens die Divergenz zwischen Gesagtem und Gemeintem. Die Adressierten müssen zwischen den Zeilen lesen, um ihn zu verstehen. Ähnlich klingt der letzte Song des Into the Wild-Soundtracks Guaranteed. Dort beklagt Pearl Jam-Sänger Eddie Vedder „They think of me and my wandering but I'm never what they thought“ und später: „Wind in my hair I feel part of everywhere / Underneath my being is a road that disappeared“. Nur die Straße mit ihrem unendlichen Freiheitsgefühl gäbe ihm das Empfinden, ein Teil von etwas zu sein. Die weichen, manchmal traurigen elektronischen Seed to Tree-Klänge hätten, nicht zuletzt wegen des Bandnamens, gut die spektakuläre und dennoch einsam wuchernde Wildnis Alaskas untermalt.

Nach dem dritten Setdurchlauf ist die Probe vorbei. Gemeinsam packen die vier Musiker alles ins Auto, was es für den morgigen Gig mit Snow Patrol braucht. Neben ihren Instrumenten und Verstärkern laden die Luxemburger Synthesizer und Sample Pads in die zwei PKWs. Bald geht es wieder auf einen Roadtrip. Diesen Sommer spielen Seed to Tree noch auf dem Wein am Stein Festival in Würzburg, auf dem Sound of the Forest Festival im Odenwald und abschließend auf dem SNNTG Festival in Hannover. Während die Bandmitglieder in ihren Autos davonfahren, ist die Batterie des Leihrads leer und das Fahrrad schwer. Passend zum persönlichen Seed to Tree-Lieblingssong I wouldn’t mind würde es nichts ausmachen, wenn die Engine wieder anspringen würde. Aber macht nichts. Mit dem Sonnenuntergang im Rücken und dem Lieblingslied im Ohr radelt es sich auch so mit einem breiten Lächeln zurück in die Stadt.

Die Indie-Musiker unter sich. Foto: Seed to Tree.