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Gesellschaft

Umsonst ist nicht genug

In Luxemburg ist der öffentliche Verkehr für alle kostenlos. Auf den ersten Blick scheint das Konzept zu funktionieren. Warum dominieren trotz allem die Autos das Stadtbild?


Text von

Tabea Laier

A m Luxemburger Hauptbahnhof ist einiges los. An dreizehn Gleisen kommen Züge an und fahren wieder ab. Wie überall hetzen Menschen durch die Bahnhofshalle, die Treppen hinauf, um ihren Zug noch zu erwischen. Nur eines ist nicht wie überall: Die langen Schlangen vor den Fahrkartenautomaten und Ticketschaltern fehlen.

Seit dem ersten März 2020 kann jede:r in Luxemburg mit den Bussen, der Straßenbahn und der Eisenbahn fahren, ohne dafür ein Ticket zu lösen. Für die Menschen, die sich in Luxemburg fortbewegen, ist das zunächst eine Erleichterung. Zwei Jahre nach der Einführung ist die Bilanz des Mobilitätsministeriums zumindest für Luxemburg Stadt positiv.

Die Luxemburger:innen nehmen das Angebot an und das öffentliche Verkehrsnetz wird ständig erweitert. Warum ist die Stadt trotzdem regelmäßig mit Autos vollgestopft? Allein die Maßnahme, den Öffentlichen Verkehr (ÖV) kostenlos zu machen, reicht offensichtlich nicht aus. Entscheidend für ein funktionierendes Mobilitätsnetz ist das Angebot. „Der Preis ist das eine, Menschen müssen aber vor allem auch den Zugang haben und auch die letzte Meile machen können“, sagt Verkehrsexperte Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Für François Bausch, Minister für Mobilität und öffentliche Arbeiten, funktioniert das Angebot gut. Regelmäßig fährt er mit der Straßenbahn ins Ministerium im Europaviertel. Dort, in seinem Büro im 16. Stock, hat er sein Aufgabengebiet perfekt im Blick. Aus den großen Fenstern ist die Station der Straßenbahn in Sichtweite. Und auch in seinem Büro ist Bausch umgeben von öffentlichen Verkehrsmitteln. An seinen Wänden hängen Bilder vom Hauptbahnhof und der Straßenbahn, und auf der Fensterbank steht sogar ein kleiner Modellzug.

Verkehrswende startete 2013

Seit sich die Mehrheitsparteien, eine Koalition aus Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen, nach der Wahl 2018 auf kostenlosen öffentlichen Transport geeinigt hatten, war Bausch maßgeblich an der Umsetzung des Konzepts beteiligt. Bereits 2013 sei die Verkehrswende mit großen Investitionen in den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel eingeleitet worden, sagt der Minister und betrachtet die Straßenbahn auf dem Bild, das ihm gegenüber an der Wand hängt.

Für die Einführung des kostenlosen ÖV habe es zwei Gründe gegeben. Einerseits soll das Konzept Aufmerksamkeit für die öffentlichen Verkehrsmittel erregen und die Menschen umdenken lassen. Andererseits sei es eine soziale Überlegung gewesen. „Mobilität ist für jeden in der Gesellschaft wichtig und jeder muss gleichberechtigten Zugang haben“, sagt Bausch. Nur für die erste Klasse muss man in Luxemburg noch die gleichen Preise zahlen wie zuvor.

Luxemburg investiert jährlich 567 Euro pro Kopf. Deutschland gibt nicht mal ein Sechstel davon für das Schienennetz aus.

Statt über Ticketverkäufe wird der ÖV nun über das Steuersystem finanziert. Dadurch fehlen dem Staat jährliche Einnahmen von 41 Millionen Euro, was etwa acht Prozent der jährlichen Gesamtkosten für die Mobilität entspricht. Ohne die Tickets werden die Kosten volkswirtschaftlich umverteilt. „Je mehr man verdient, desto mehr Steuern zahlt man“, sagt Bausch. So würden die Reicheren auch mehr für die Nutzung des öffentlichen Verkehrs zahlen.

Mehr Menschen steigen spontan in den Bus

Natürlich habe das steuerfinanzierte Angebot auch Auswirkungen auf die Fahrgastzahlen, meint der Mobilitätsminister. Mehr Menschen würden inzwischen spontan, etwa bei schlechtem Wetter, in den Bus oder die Bahn steigen. Tatsächlich seien die Nutzer:innenzahlen der Straßenbahn vor zwei Jahren, bei der Einführung des Gratis-ÖV, binnen zwei Wochen von 28 000 auf 35 000 Personen gestiegen. Inwieweit die Maßnahme in den vergangenen zwei Jahren angenommen wurde, ist statistisch allerdings nicht nachvollziehbar, denn kurz nach Beginn des Programms kam Corona nach Europa. Der Lockdown in Luxemburg setzte ein.

Inzwischen liegt die Auslastung von Bus und Bahn bei 90 Prozent. „Das Verkehrsnetz kann das aber stemmen, weil wir die Kapazitäten ständig ausbauen“, sagt Mobilitätsminister Bausch.

„Wir sind am Limit der Kapazitäten angekommen“

Anderer Meinung ist Lokführer Adriano Martins, der die Auswirkungen des Gratis-ÖV täglich miterlebt. Während Bausch aus dem 16. Stock schaut, betrachtet Martins durchs Führerhäuschen die Gleise vor sich. „Wir hatten schon vorher einen gut gefüllten öffentlichen Transport. Jetzt sind wir tatsächlich am Limit der Kapazitäten angekommen“.

Martins steuert seit 21 Jahren Züge durch Luxemburg und Frankreich. In diesem Zeitraum sei die Anzahl der Fahrgäste um 60 Prozent gestiegen, sagt er. Doch auch wenn die Züge oft überlastet sind, blickt Martins zuversichtlich auf die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs. Gerade sei neues Zugmaterial in Höhe von 400 Millionen Euro bestellt worden. Ab 2023 werden Züge mit Doppelstockwerken durch Luxemburg fahren. „Dann werden wir doppelte Kapazität pro Zug haben, deshalb wird Überlastung dann kein Problem mehr sein“, erklärt er.

Martins’ Arbeit als Lokführer hat sich seit der Einführung des Gratis-ÖV nichts geändert. Für seine Zugbegleiter:innen dagegen schon, berichtet er. Ihr Job ist jetzt ein anderer. Der neue Arbeitsschwerpunkt liegt nun darin, über Anschlüsse und Zughalte zu informieren und für Sicherheit zu sorgen. Das erleichtere die Aufgabe. „Die meisten Konfrontationen sind durch Schwarzfahrer entstanden. Diese Konflikte gibt es jetzt nicht mehr“, sagt Martins.

Angst um Personal

Anfangs waren vor allem die Gewerkschaften besorgt. „Wenn etwas Neues kommt, ist der erste Gedanke immer, dass Personal nicht mehr gebraucht wird“, sagt Georges Melchers, Generalsekretär vom Landesverband der Gewerkschaft der Bediensteten im Transportwesen. Am größten war die Befürchtung, dass die Menschen an den Schaltern ihre Arbeit verlieren, denn die gibt es jetzt nur noch am Luxemburger Hauptbahnhof und in Belval.

Trotzdem wurde kein Personal entlassen. Gemeinsam mit dem Mobilitätsministerium haben die Gewerkschaften eine Lösung erarbeitet: Das Schalter-Personal wurden innerhalb der staatlichen Eisenbahngesellschaft Luxemburgs (CFL) versetzt oder zu Aufsichtsbeamt:innen umgeschult.

Viele Mitarbeiter:innen seien anfangs besorgt gewesen, was auf sie zukommen würde. Für Gewerkschaftler Melchers ist allerdings klar: „Es musste niemand eine Aufgabe machen, die er nicht wollte.” Er ist zufrieden mit den Lösungen, die mit dem Ministerium gefunden wurden und die größten Zweifel der Gewerkschaft aus dem Weg geräumt haben. Seine Bilanz zur Einführung des Gratis-ÖV ist positiv. „Beim Kunden kommt es gut an“.

Doch wenn das Konzept des kostenlosen ÖV in Luxemburg so ausgereift scheint, bleibt eine Frage offen: Warum fahren immer noch so viele Autos auf den Straßen Luxemburgs? Mit 696 Autos je 1000 Einwohner:innen hat Luxemburg laut European Automobile Manufacturers’ Association EU-weit die meisten Autos pro Kopf. Im Vergleich liegt Deutschland mit 580 Autos je 1000 Bürger:innen auf Platz drei.

Für Steve ist sein Auto nicht mehr wegzudenken. Der Luxemburger arbeitet an der Rezeption einer Jugendherberge und fährt jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit. In seinem dreiköpfigen Haushalt besitzt jede:r ein eigenes Auto. Auf dem Land sei es schwierig, sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen, erklärt er. Bei Arbeitszeiten in Schichten sei es kaum möglich, nachts mit dem Bus noch aufs Land zu kommen. Hauptproblem im Luxemburger Verkehr ist also der mangelnde Ausbau des Transportsystems auf dem Land.

Autochaos in der Stadt

Die Folge: In der Stadt stauen sich die Autos, die vom Land kommen. „Der Verkehr in Luxemburg ist ein Chaos”, sagt Jean-Claude Juchem, CEO des Automobilclub Luxemburg. Aus seinem Büro in Bertrange beobachtet Juchem täglich Staus. „Das ist schrecklich, das fängt morgens an, man kommt fast nicht wieder raus“, erzählt er.

440 000 Autos sind derzeit in Luxemburg zugelassen, jährlich gibt es einen Zuwachs von 2,5 Prozent. Grund dafür ist auch für Juchem die schlechte Anbindung des öffentlichen Verkehrs an die ländlichen Gebiete, aber auch die große Zahl an Grenzpendler:innen. Zwar sei das Angebot für die Menschen in den Ballungsgebieten gut, „aber wenn man nicht in Luxemburg Stadt wohnt, kann man davon nicht profitieren“, sagt er.

Auch Mobilitätsminister François Bausch ist sich bewusst: „Kostenloser ÖV macht nur Sinn, wenn man eine Gesamtstrategie hat. Wenn man nur den Zugang gratis macht und an einem schlechten System nichts ändert, führt das zu nichts.“ Viel wichtiger als der kostenlose Zugang zu den Verkehrsmitteln sei ein Verkehrskonzept – im Fall von Luxemburg der „Nationale Mobilitätsplan 2035“, der über 120 Großprojekte umfasst. Momentan bewegen sich die Luxemburger:innen noch zu 70 Prozent mit dem Auto und nur zu 16 Prozent mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Luxemburgs Zielsetzung bis 2035 ist es, die Autonutzung auf 55 Prozent zu verringern.

„Ich bin nicht gegen Autos“

Steve jedenfalls kann sich nicht vorstellen, sein Auto zu verkaufen. Das sei auch gar nicht das Ziel, meint Mobilitätsminister Bausch. „Ich bin nicht gegen Autos. Man muss das Auto nur effizienter machen.“ Das Auto müsse Teil einer Mobilitätskette werden und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kombiniert werden. Dafür würde gerade in Park and Ride-Anlagen investiert. „Dann können die Menschen von ihrem Wohnort zehn Kilometer mit dem Auto und dann mit dem Zug die Hauptstrecke fahren“, erklärt Bausch. Dass die Menschen auf dem Land ganz auf ihr Auto verzichten können, scheint also gar nicht vorgesehen zu sein.

„Wir bauen die Kapazitäten ständig aus“, sagt Mobilitätsminister François Bausch. (Foto: Hannah Bitzer)

Auch für die rund 230 000 Grenzgänger:innen, die jeden Tag die Grenze nach Luxemburg passieren, scheint eine autofreie Lösung erstmal nicht absehbar. Das Problem: Dadurch, dass die Zugfahrt bis zur luxemburgische Grenze Geld kostet, fahren viele Pendler:innen mit dem Auto, oft auch noch innerhalb Luxemburgs.

Hier würden zusätzliche Park and Ride-Anlagen helfen, die Autofahrten vor der Grenze zu beenden. Für die braucht es aber Platz. Lokführer Martins sieht da die Kapazität erschöpft. Trotz allem kann der Lokführer eine positive Entwicklung durch den Gratis-ÖV feststellen: „Bevor es kostenlos war, sind viel mehr Leute die ganze Strecke mit dem Auto gefahren.“

Kostenloser ÖV auch in Deutschland?

Natürlich habe der Gratis-ÖV auch Druck auf die Nachbarländer ausgeübt, sagt Bausch. Seit Juni gibt es das 9-Euro-Ticket in Deutschland, mit dem man in ganz Deutschland für einen Monat fahren kann. Minister Bausch hätte es sinnvoll gefunden, den Nahverkehr auch in Deutschland direkt kostenlos zu machen.

Das sieht Verkehrsexperte Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung anders. Er hält es für ausgeschlossen, dass das luxemburgische Konzept auch in Deutschland Einzug hält. „Das wollen wir auch gar nicht“, sagt er, „denn gute Leistung und attraktive Angebote müssen bezahlt werden.“ Das Attraktive am 9-Euro-Ticket sei nicht der erschwingliche Preis, sondern, dass das Ticket in ganz Deutschland gültig ist. „Das Gesamtpaket muss attraktiver sein, da ist der Preis nur ein kleiner Teil“, sagt er.

Auch Bausch weiß, wie wichtig ein gesamtheitliches Konzept ist. „Es ist eine Katastrophe, wenn man keine Vision hat.” Visionen - davon hat der Minister genug. Begeistert blättert er durch den 200-Seiten dicken Mobilitätsplan. „Wenn das alles umgesetzt ist, wird Luxemburg anders aussehen”, sagt er. Im September trifft er sich mit dem deutschen Verkehrsminister Volker Wissing. Da kann er ihm dann von seinen Visionen erzählen.